Teil II – Demokratie leben

5. Diskussionsprozess vom Entscheidungsprozess trennen

Wenn wir über konkrete Gesetze entscheiden wollen, ist die Trennung zwischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung einerseits und der konkreten Abstimmung andererseits wichtig.

In meinen Ausführungen zur Gewaltenteilung als Garant demokratischer Freiheit habe ich bereits darauf hingewiesen, dass unser Grundgesetz in Artikel 20 Absatz 3 eine Unterscheidung zwischen Wahlen und Abstimmungen macht.

In Wahlen werden Personen (oder Parteien) für eine Aufgabe bestimmt. Abgeordnete werden gewählt. Der Deutsche Bundestag wählt den Bundeskanzler.

In Abstimmungen werden Entscheidungen über eingebrachte Vorschläge (also über Inhalte) getroffen. Menschen stimmen beispielsweise darüber ab, ob sonntags Geschäfte geöffnet werden dürfen, ob ein Flughafen neu gebaut werden soll oder nicht, oder ob der Flughafen am Standort A, B oder C errichtet werden soll.

Ich lege besonderen Wert auf diese Unterscheidung, weil sie für unser Demokratieverständnis entscheidend ist. Eine Wahl ist eben keine Abstimmung, eine Abstimmung ist keine Wahl. Deshalb verbietet es sich, dass man nach einer Wahl von einem „Abstimmungsverhalten“ faselt oder dass mit der Wahl einer Person auch eine sachliche Entscheidung verbunden sei.

Ich hatte ja bereits Franz Müntefering zitiert, der sich 2006 darüber erregte, dass er nach der Wahl an seine Wahlversprechen vor der Wahl erinnert werde. So sehr sich auch die Allgemeinheit darüber aufregte: Ich finde, der Mann hat voll und ganz recht. Sein Unverständnis über die Reaktion der Öffentlichkeit offenbarte lediglich, wie sehr Müntefering den Unterschied zwischen Wahlen und Abstimmungen verinnerlicht hatte – und wie wenig diese Unterscheidung zwischen Wahlen und Abstimmungen in der öffentlichen Wahrnehmung verankert ist. Nach der Wahl müssen in aller Regel Koalitionen gebildet werden. Deshalb werden die in Wahlprogrammen dargelegten Inhalte, die ja bisweilen wie Weihnachtswunschlisten klingen, nur zum Teil umgesetzt werden können.

Wenn deutlich ist, dass die Wahlprogramme nicht zur Abstimmung stehen, sondern die Parteien und Personen zur Wahl, dann wird auch deutlich, dass die Gewalt, die vom Volk ausgeht, neben Wahlen auch durch Abstimmungen ausgeübt werden muss.
Wer aber die Bedeutung von Wahlen und Abstimmungen zu trennen weiß, der wird feststellen, dass uns die Hälfte der Staatsgewalt, namentlich die Abstimmung über Inhalte, noch nicht recht in Fleisch und Blut übergegangen ist, weil das Volk bislang nur in absoluten Ausnahmen und nach der Überwindung hoher Hürden zur Abstimmung berechtigt ist.
Nun wird man einwenden, dass „Volksinitiative“, „Volksbegehren“ und „Volksabstimmungen“ Instrumente seien, die in der Verfassungsgesetzgebung als „dreistufige Volksgesetzgebung“ bekannt und geregelt seien.

Deshalb ist hier eine deutliche Klarstellung erforderlich:

Die bislang normierte Möglichkeit einer Abstimmung durch das Volk resultiert in einer Entscheidung, die die Entscheidung eines Parlamentes ersetzt.
In der Folge halten viele verantwortungsbewusste Menschen eine allzu leichtfertige Abstimmungsfreigabe für problematisch. Sie befürchten einen Missbrauch des Verfahrens und eine Rechts- oder gar Verfassungswidrigkeit in der Sache selbst. Konsequenterweise möchten sie das Instrument des Volksentscheid Themen vorbehalten, die entweder von grundsätzlicher Bedeutung sind (wobei selbst die Vereinigung der beiden Deutschen Staaten nicht grundsätzlich und bedeutungsschwer genug war, um einen Volksentscheid trotz verfassungsrechtlicher Vorgabe des Artikels 149 des Grundgesetzes durchzuführen) oder es soll um Fragen gehen, die sich einer politischen Entscheidung entziehen (und dann in aller Regel den Aufwand eines Volksentscheids nicht rechtfertigen).

Mein im folgenden dargelegter Vorschlag des volksparlament.eu setzt hingegen tieferschwelliger an. Er soll insbesondere die drei Gewalten unseres Staates nicht von ihrer Pflicht entbinden zu entscheiden, zu überwachen und umzusetzen.

Das Volksparlament.eu setzt sich in seiner Kompetenz neben das Parlament und ergänzt dieses. Es ersetzt die Entscheidung der Landtage, des Deutschen Bundestages oder des Europaparlaments, der EU-Kommission und des EU-Ministerrates nicht, sondern es empfiehlt diesen Institutionen die Übernahme der im Volksparlament.eu getroffenen Entscheidung.

Diese Klarstellung ist deshalb wichtig, weil jede Entscheidung, die in den Landtagen, im Deutschen Bundestag und im Europaparlament, sowie im Ministerrat als Exekutivorgan getroffen wird, der vorherigen Entscheidung durch das volksparlament.eu unterworfen werden soll. Bürokratische Hürden, Unterschriftensammlungen und dergleichen, sind deshalb entbehrlich.

Nun wird man sich fragen: Was soll das volksparlament.eu denn dann? Wenn es nur Entscheidungen zu übernehmen empfiehlt, dann hat es ja keine Macht. Wenn es lediglich den Willen des Volkes abbildet, warum reicht es dann nicht, die Meinungsforschung zu befragen?

Nun: es ist anders. Zunächst wird sich den Berufspolitikern die Frage stellen, ob sie Volksvertreter sind – oder Interessenvertreter. Sie kommen durchaus in Erklärungsnot, wenn sie sich dem Fraktions- oder Koalitionszwang beugen, obwohl das volksparlament.eu etwas anderes entschieden hat. Sie werden den Spagat aushalten müssen zwischen Listenplatz, den sie ihrer Partei verdanken, und Wahlergebnis, für das sie Wählerstimmen benötigen. Und diese Wählerstimmen werden von Menschen kommen, die sich sehr genau anschauen werden, ob sich ein gewählter Abgeordneter gegen die Mehrheitsmeinung des volksparlament.eu entschieden hat.

Ultimativ wird zu prüfen sein, ob eine neue Partei letztlich die Funktion übernimmt, die Mehrheitsentscheidung des volksparlament.eu in das gewählte Abgeordnetenparlament zu tragen. Diese Partei wird an die Stelle des Fraktionszwangs den Zwang setzen, entsprechend der Mehrheitsmeinung des Volksparlament.eu abzustimmen.

Noch eine weitere Klarstellung:

Das Volksparlament.eu ist kein Diskussionsforum, sondern ein reines Abstimmungsportal. Mithin werden über einen festgelegten Rahmen hinaus keine Begründungen für oder gegen einen Entwurf zugelassen.

Wie bei einer Wahl auch: Dort liegen die Parteiprogramme nicht mehr in der Wahlkabine aus; ein Tag vor der Wahl ist Schluss mit Wahlkampf. Am Wahltag hängen in einem Radius von 20 Metern um die Schulen oder Gaststätten, die zu Wahllokalen umfunktioniert werden, keine Plakate mehr und in den Gebäuden ist jedweder Hinweis auf eine Partei verboten. Dies alles, damit der Wähler bei der Wahl mit sich allein ist.

So muss es auch bei einer Abstimmungsplattform im Internet sein.

Dies ist besonders deshalb wichtig, weil ohne eine Beschränkung auf die Abstimmung ein solches Portal sofort mit Meinungen und Diskursen zugeschüttet werden würde. Zwischen der Meinungsbildung, der Entscheidungsfindung und der Abstimmung müssen jedoch Zäsuren, also klare Trennungen, liegen. Wird eine solche Trennung nicht klar und eindeutig vollzogen, ist eine Abstimmung nicht mehr seriös durchzuführen.

Mithin soll und muss eine sachliche Auseinandersetzung über ein Themenkomplex andernorts erfolgen und möglich sein. Gegebenenfalls werden sich andere Websites anbieten, um einen inhaltlichen Austausch, einen politischen Diskurs, ein Streitgespräch über das Für und Wider einer Vorlage zu befördern. Das volksparlament.eu wird diese Funktion jedoch nicht übernehmen.

Der Diskussionsprozess wird klar und deutlich vom Abstimmungsprozess getrennt. In das volksparlament.eu wird man nur dann gehen, wenn man abstimmt. Wie die Wahlkabine auch ist das volksparlament.eu also eine Abstimmungskabine, in der Ihre Stimme für oder gegen einen Vorschlag zählt oder Ihre Enthaltung in der Sache. Sie müssen Ihr Abstimmungsverhalten nicht begründen oder rechtfertigen. Alleine Sie sind sich – und zwar nur sich gegenüber – für Ihre Abstimmung rechenschaftspflichtig.

Sie werden feststellen, dass Sie sich Ihre Entscheidung nicht leicht machen werden und diese in größter Verantwortung treffen werden. Mir ist es jedenfalls so gegangen: als ich das erste Mal an einer Abstimmung teilnahm, war diese Abstimmung für mich persönlich sehr wichtig. Entsprechend gewissenhaft habe ich meine Entscheidung getroffen. Seither stimme ich über zahlreiche Gesetzesvorlagen ab. Mich wundert, dass viele Gesetze den Bundestag einfach so passieren. Ich vermute, dass man dies nur deshalb so machen kann, weil keiner so genau hinschaut. Deshalb ist Ihre Abstimmung über die Gesetzesvorlagen so wichtig. Denn der Legitimationsdruck auf Politiker muss sich erhöhen.

Übrigens: Zwei Stunden pro Woche reichen völlig aus, um über einer Vielzahl von Gesetzesvorlagen abzustimmen. Sie werden erstaunt sein, wie viele Gesetze aufgrund einer Vorgabe der Europäischen Union verabschiedet werden, weil der Ministerrat zuvor die EU-Kommission um die Erarbeitung einer Rechtsverordnung gebeten hat. Wenn ich bedenke, dass mithin die Ausführende Gewalt die Verwaltung um Erarbeitung eines Gesetzes bittet und dann die Gesetzgebende Gewalt lediglich ein Ausführungsgesetz beschließen darf – also das Wie beschließen kann, nicht aber das Ob – dann springt mir schon in den Sinn, dass die Nationalversammlung zu Napoleons Zeiten ähnlich strukturiert war, wie es die heutigen Parlamente sind. Ein Mehr an Demokratie und eine Reform des politischen Entscheidungsprozesses ist überfällig.

Dies führt mich zu einer dritten Klarstellung: Das volksparlament.eu wird sich nicht nur mit Gesetzesvorlagen befassen, die in den Parlamenten, beziehungsweise im EU-Ministerrat beschlossen werden, sondern es wird auch die Möglichkeit geben, neue Initiativen zu starten, danach einen entsprechenden Gesetzesentwurf zu erarbeiten und diesen dann im volksparlament.eu zur Abstimmung zu stellen. Dies soll namentlich die Möglichkeit eröffnen, Politikfelder neu zu bearbeiten, zu denen es gar keine Initiativen in den entsprechenden Institutionen gibt. Dies kann dann dazu führen, dass Beteiligungsforen, wie sie die Bundeskanzlerin mit ihrem „Dialog für Deutschland“ angestoßen hat, tatsächlich in konkreten Initiativen ihren Niederschlag finden und somit, im Rückschluss sozusagen, ein solcher Dialog an Ernsthaftigkeit gewinnt.