Der Verfassungsalltag sieht freilich nicht ganz so fulminant aus, wie die Verfassungstheorie. Denn unsere Grundrechte, wie sie in Artikel 2 bis 19 des Grundgesetzes garantiert werden, sind durch Gesetze oder durch richterliche Entscheidungen Stück für Stück beschnitten worden. Bereits in den 1950er Jahren entstand ein fortwährender Streit darüber, ob der wesentliche Kern eines Grundrechts noch gewährleistet ist. Zweifellos wird dieser Streit, was denn konkret zum Kern eines Grundrechts gehört, immer weitergehen; denn immer steht die zu entscheidende Frage im Kontext eines konkreten Sachzusammenhangs, immer sind Politik, Verwaltung und Justiz bemüht, hier und heute das gesellschaftliche Zusammenleben zu organisieren und zu reglementieren. Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch: die Freiräume der einzelnen Bürgerin, die Abwehrrechte der Bürgerin gegen den Staat drohen immer weiter zu schrumpfen.
Und so wird, in kleinen Schritten, ein Grundrecht eingeschränkt. Selten wird ein Gesetz vom Gesetzgeber aufgehoben, weil andere Gesetze das alte Gesetz obsolet gemacht haben. Selten wird eine höchstrichterliche Entscheidung grundsätzlich geändert und Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat dadurch gestärkt: „Im Lichte der Grundrechte“ werden Gesetze interpretiert und zumeist als verfassungskonform befunden. Keines der Grundrechte blieb von derlei Beschränkungen verschont. Jedes der oben beschriebenen Grundrechte wurde abgenagt, bis nur noch ein Kern übrig blieb.
Ich gestehe zu, dass die Demokratie „atmen“ können muss: Rechte müssen in Krisenzeiten gegebenenfalls enger ausgelegt werden können, als in entspannten Zeiten. Gleichwohl: Grundrechte sind kein Luxus und auch dem Zeitgeist nicht unterworfen. Deshalb gebietet die Verantwortung vor dem Recht, namentlich vor unserer Verfassung, dass Entscheidungen zur Beschneidung oder Einschränkung von Grundrechten „in the long run“ interpretiert und mittel- und langfristige Auswirkungen beachtet werden – im Zweifel müssen wir uns für die Stärkung von Grundrechten entscheiden, selbst wenn es uns aufgrund der Stärkung des in Frage stehenden Grundrechts schwerer fällt, dem heute zu lösenden Problem zu begegnen.
Von einem solchen Grundsatz ist die deutsche, von Eliten geprägte Politik weit entfernt. Kaum wird ein Verbrechen öffentlich, schon wird der Ruf nach einem „starken Staat“ laut. Damit ist regelmäßig eine Einschränkung von Freiheitsrechten der Bürgerin verbunden. Anders ist dies in Staaten, in denen die Bürgerinnen stärker in den gesellschaftlichen Diskurs, in die öffentliche Debatte, eingebunden sind. Norwegen ist ein solches Beispiel. Nach dem schrecklichen Attentat des Anders Behring Breivik im Juli 2011, nach dem Mord von 77 zumeist jugendlichen Menschen, hat der norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg keinesfalls nach Vergeltung, nach Sicherheitsgesetzen und staatlicher Kontrolle gerufen. Trotz oder gerade wegen seiner Trauer, fand er mit belegter Stimme und Tränen in seinen Augen diese starken Worte: “Unsere Antwort wird mehr Offenheit und mehr Demokratie sein”.
Ich wünsche mir ein Deutschland, das diesem überzeugenden Vorbild folgt.
Ist dies nur reines Wunschdenken? Ich vertraue darauf, dass mit zunehmendem Selbstbewusstsein und stärkerer Einbindung der Bürgerinnen in die Entscheidungsprozesse der Politik dieser Ruf nach Offenheit und Demokratie auch in Deutschland lauter wird: Denn die Einschränkung von Freiheitsrechten, die Zunahme von Kontrolle durch den Staat und die damit einhergehende Bevormundung richtet sich früher oder später gegen uns alle.
Und manchmal müssen wir wohl auch Gesetze erst schaffen, um Grundrechte zu verwirklichen. An dieser Stelle möchte ich ein Beispiel in der Absicht anführen, die Falle deutlich zu machen, in der sich Gesetzgeber, Verwaltung und Rechtsprechung bisweilen verfangen: Eine Tochter einer Albanerin wird in Deutschland geboren. Ein deutscher Mann erkennt die Vaterschaft zu diesem Kind an, weil er glaubt, Vater der Tochter zu sein. Das Mädchen erhält daraufhin die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Mutter erhält eine befristete Aufenthaltserlaubnis, weil sie Mutter des deutschen Kindes ist. Als das Kind etwa 18 Monate alt ist, reichte das Rechtsamt der Stadt, in der das Kind wohnt, beim Familiengericht eine Vaterschaftsanfechtung zu dem rechtlichen Vater ein. Aufgrund eines genetischen Abstammungsgutachtens wurde sodann festgestellt, dass das Kind nicht vom rechtlichen Vater abstammt.
Dieses Anfechtungsrecht steht der Behörde zu; dieses Recht des Staates schränkt das Grundrecht auf besonderen Schutz der Familie ein. Damit reagierte die Politik auf bekannt gewordene Einzelfälle von Scheinanerkennungen ausländischer Kinder durch deutsche Männer. Manche mögen diese Grundrechtseinschränkung als Skandal empfinden. Der Skandal geht aber weiter: Nun entzieht die Behörde dem Kind den Kinderausweis mit der Begründung, das Kind sei nicht mehr im Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft.
Als ich dies hörte, wollte ich es gar nicht glauben. Denn nach dem Staatsbürgerschaftsrecht ist ein Entzug der deutschen Staatsbürgerschaft in dem hier geschilderten Fall gegen den Willen der Betroffenen gar nicht möglich. Dieses fundamentalste aller Rechte, nämlich deutsche Staatsbürgerin zu sein und zu bleiben, wurde im Zuge der Erfahrungen des Nationalsozialismus geschaffen: Während der NS-Herrschaft wurde Juden die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt und in die Staatenlosigkeit entlassen. Viele Juden wussten weder Ein noch Aus.
Nun musste ich dazulernen: Auch im Deutschland des 21. Jahrhunderts ist eine solche faktische Situation möglich. Denn es handelte sich hier nicht um den Entzug der Staatsbürgerschaft, sondern um dessen Wegfall. Die Voraussetzungen zur Erteilung der Staatsbürgerschaft, die in der Anerkennung des deutschen Mannes als Vater des Kindes lag, ist nachträglich deshalb entfallen, weil das Familiengericht festgestellt hat, dass der Mann aufgrund des Abstammungsgutachtens nicht Vater des Kindes ist. Nun dachte ich in meiner Naivität, dass hiergegen Rechtsschutz bestünde und selbstverständlich dem Mädchen die Staatsbürgerschaft nicht abhanden kommt. Falsch: im Jahr 2006 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, die Klage des Kindes nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil der Staatsangehörigkeitsverlust eben keine Entziehung der Staatsangehörigkeit ist. In der Folge wurde das Kind staatenlos, die Aufenthaltserlaubnis der Mutter wurde entzogen.
Bei aller juristisch professionellen Korrektheit der Entscheidung muss man sich an diesem Beispiel die Frage stellen, wo das beste Interesse des Kindes zum Abwehrrecht erstarkt, sich gegen die faktisch erfolgte Entlassung in die Staatenlosigkeit zu wehren. Alles staatliche Handeln muss im besten Interesse des Kindes erfolgen. Sonstige Erwägungen sind im Zweifel zurückzustellen. Dies ist eine Zusage, die Deutschland allen Kindern und der internationalen Staatengemeinschaft gegeben hat, als Deutschland die Kinderrechtskonvention unterschrieb. Auch die Gewähr, dass kein Deutscher durch Wegfall der deutschen Staatsangehörigkeit staatenlos wird, ist durch eine internationale Konventionen festgeschrieben, die Deutschland verbindlich unterzeichnet hat.
Für mich macht dieses Beispiel deutlich, dass Bürgerinnen Gesetze entwerfen und zur Abstimmung bringen müssen, die einen solchen Missstand beseitigen.
Der schleichende Prozess stetig schwindender Grundrechte trägt meines Erachtens nicht dazu bei, dass sich die breite Öffentlichkeit enthusiastisch an unserem Gemeinwesen beteiligt. Solches Engagement findet man deshalb eher in ehrenamtlicher Tätigkeit in Vereinen, als in der „großen“ Politik.
Ich behaupte, dass das schleichende Schleifen unserer Grundrechte dazu beiträgt, dass wir uns heute in einer Krise der Demokratie befinden. Erst wenn wir erkennen, dass der Schutz von Grundrechten und der Schutz unserer Demokratie unteilbar ist, werden wir der Gefahr einer Entdemokratisierung entgegen wirken können.