Teil I – Parlamentarische Demokratie – Erfolgsmodell oder Auslaufmodell?

2.3. Stärkung Europas und Schwächung des Bundesstaates

Als ich begann, der Frage nach den Schwächen unserer parlamentarischen Demokratie nachzugehen, hätte ich nie und nimmer geglaubt, dass ich so schnell über das Thema „Europa“ stolpern würde. Ich bin ein absoluter Befürworter der europäischen Integration. Während meiner zehnjährigen internationalen Tätigkeit empfand ich die kulturelle Vielfalt, das jeweils andere Denken, das Begreifen der uns einenden Welt und die positive Ausstrahlung eines Europas im Wachstum als befreiend. Dieses Gefühl von Raum und Freiheit, von Luft zum Atmen, von Gestaltungsmöglichkeiten wurde auch durch die historischen Chancen beflügelt, die sich durch das Ende des Ost-West-Konfliktes zu Anfang der 1990er Jahre ergaben. Es war mir klar: ein gemeinsames, ein starkes Europa wird den Menschen Europas gut tun. Heute, fast ein Vierteljahrhundert später, sehe ich dies im Kern noch ganz genauso. Ich lasse mich nicht beirren: Wir brauchen ein gemeinsames Europa – nicht trotz, sondern gerade wegen der Finanzkrise, die uns seit 2008 in Atem hält. Wir brauchen ein gemeinsames Europa nicht trotz, sondern gerade wegen der Gefahr eines Mehrklassen-Europas, das unterteilt wird in „gute“ Euro-Länder (wie Deutschland, Frankreich oder Finnland), „schlechte“ Euro-Länder (wie Italien, Spanien, Portugal, Griechenland oder Zypern), Länder ohne Euro, aber mit Teilnahme am Europäischen Fiskalpakt (wie Dänemark und Rumänien) EU-Länder mit Schuldenbremse wie Polen oder Bulgarien) und schließlich Länder ohne Euro und ohne Fiskalpakt (wie Großbritannien und Tschechien). Wir brauchen ein gemeinsames Europa nicht trotz, sondern gerade wegen der Gefahr eines Auseinanderbrechens dieser Europäischen Union.

Deswegen, weil wir ein stärkeres Europa in der Zukunft brauchen, müssen wir uns anschauen, wo die Europäische Union eine Stärkung braucht. Ich gebe frei heraus zu, dass mir eine kritische Betrachtung der Europäischen Union angesichts der allerorten anzutreffenden Europa-Skepsis nicht leicht fällt. Erst als mir bewusst wurde, dass sich Europa das Fehlen einer wohlmeinenden aber kritischen Betrachtung gar nicht leisten kann, weil Europa-Skeptiker sich erst recht bestätigt glauben, wenn sie sich an noch bestehenden Schwächen der Europäischen Union laben können, wurde es mir leichter ums Herz und ich konnte dieses Kapitel schreiben.

Woher, Europa, kommst Du?

Eigentlich hätte man glauben können, sei die Idee eines gemeinsamen Europa aus dem Nachkriegsappell: „Nie wieder Krieg!“ entstanden. Europa lag in Schutt und Asche, was hätte näher gelegen als die Idee, durch Gemeinschaft stark zu werden, weil man sich nicht mehr gegenseitig umbrachte. Was hätte näher gelegen als die Forderung umzusetzen, die heute noch gilt: Nazis raus aus den Köpfen! Und: Demokratie rein in die Köpfe aller Europäerinnen und Europäer! Weit gefehlt.

Die Idee eines gemeinsamen Europa entsprang schlichtem betriebswirtschaftlichem Kalkül: Wenn Stahl und Kohle nicht mehr mit Zöllen belegt würden, könnten Thyssen, Krupp, Hoesch, Degussa oder DuPont ihre jeweiligen Märkte erweitern. Anders als in Amerika, wo die Vereinigten Staaten Menschen Hoffnung auf Freiheit gaben, die sich in Europa in ihren Rechten, in ihrer Religion, in ihren Entfaltungsmöglichkeiten beschnitten sahen, ist im Kern die Europäische Gemeinschaft, die der Montan-Union entsprang, eine Wirtschaftsgemeinschaft. Diese Gemeinschaft wurde dadurch belebt, dass die Wirtschaft der teilnehmenden Staaten mehr Geld aus dieser Gemeinschaft heraus bekamen, als sie in sie hinein investierten. Deshalb blieb der unerhörte Satz der britischen Premierministerin Margaret Thatcher so lange im europäischen Gedächtnis: „I want my money back! – Ich will mein Geld zurück!“ Europa sollte sich immer schon lohnen – und dieses Versprechen, dass sich Europa lohne, war immer verstanden als finanzieller Gewinn.

Nun mag man zu recht fragen: was soll´s? Und wenn schon? Selbst wenn die Europäische Union in erster Linie eine Gemeinschaft der Wirtschaft war: heute sind wir weiter! Europa wächst zusammen in seiner kulturellen Identität: Der gegenseitige Austausch, die Menschen, die jenseits der Grenzen und über sie hinaus Freundschaften schließen, Partnerschaften gründen, sich gegenseitig zu schätzen lernen, ist Beweis für eine europäische Identität in kultureller Pluralität. Europa wächst zusammen in seiner politischen Stabilität: Denken wir nur an das Deutschland mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit, denken wir an Griechenland, an Italien, an Spanien und an Portugal mit ihren jeweiligen faschistischen Diktaturen – die Europäische Gemeinschaft hat diese Länder aufgenommen und sorgt durch Integration für politische Stabilität. Und schließlich wächst Europa auch in seiner sozialen Stabilität zusammen: Wenn wir die zahlreichen Programme der Europäischen Union zur Stärkung regionaler Entwicklung, zur Ansiedelung von Unternehmen in wirtschaftlich schwachen Regionen, zur Förderung der Agrarwirtschaft, der Industrie, der Dienstleistungen betrachten – durch die europäisch koordinierte Wirtschafts-, Agrar- oder Arbeitsmarktpolitik wird soziale Stabilität gefördert. Last but not least: Europa garantiert jeder Bürgerin Grundrechte, als Abwehrrechte gegen den Staat.

Deshalb sei die Frage gestattet: Wer, Europa, bist Du?

Wenn wir uns die Prozesse anschauen, wie in Europa Gesetze gemacht werden, dann müssen wir demokratische Defizite kritisieren. Wenn die Staats- und Regierungschefs eine Entscheidung in ihrem Grundsatz getroffen haben, wird der Ministerrat, also die Fachebene, tätig und handelt die Details aus. Die Europäische Kommission macht einen Gesetzesvorschlag, der dann mit dem Ministerrat abgestimmt wird. Wenn das Gesetz dann „fertig“ ist, wird es dem Europäischen Parlament vorgelegt. Das Parlament entscheidet jedoch über dieses Gesetz nicht allein, sondern es entscheidet zusammen mit dem Ministerrat, also dem „Auftraggeber“. Die Trennung von gesetzgebender Gewalt, vollziehender Gewalt und rechtsprechender Gewalt, einst Fundament und Wesensmerkmal jedes demokratisch verfassten Staates, ist in Europa nicht vollständig verwirklicht. Denn die Kommission und der Ministerrat sind Exekutivorgane der Union, gegen deren Willen kein Parlament Gesetze (hier: Verordnungen, Richtlinien, Entscheidungen) durchsetzen kann.

Nun könnte man ja sagen: „Alles halb so schlimm“ – ist ja nur Europa, wenn – ja wenn die Regierungschefs nicht längst Blut geleckt hätten am „durchregieren“, wie es Helmut Kohl einst nannte. Heute werden etwa 70 % aller Gesetze über „Bande“ gespielt. Gesetze, von denen die Minister ganz genau wissen: die würden nie und nimmer eine Mehrheit im deutschen Bundestag finden oder Gesetze, die die Bevölkerung in blankes Entsetzen versetzen würden: Europa macht es möglich.

Wer biometrische Daten im Personalausweis oder Freisetzung gentechnisch veränderter Feldfrüchte will: er muss nur ein wenig geduldig sein. Zunächst wird ein Beschluss im Europäischen Rat, also dem Gremium der Staats- und Regierungschefs, gefällt. Dann wird die Europäische Kommission tätig, formuliert in Absprache mit den im Ministerrat vertretenen Fachministerien eine Verordnung, die sodann ins Gesetzgebungsverfahren des Europäischen Parlaments geht. Wenn dort die Parlamentarier nicht die Notbremse ziehen, sondern schweigen, wird das Gesetz in zweiter Lesung beschlossen. Danach können sich die Parlamentarier in Berlin oder Paris auf den Kopf stellen: Sie müssen die Verordnung in nationales Recht umsetzen, ob sie wollen oder nicht.

Deshalb ist das Demokratiedefizit, deshalb ist die nicht umgesetzte Gewaltenteilung in Europa kein einfacher Schönheitsfehler: Weil 70 % aller Gesetze so gemacht werden, höhlt es den Parlamentarismus in Europa aus.
Dieser in seiner Häufigkeit in den vergangenen Jahrzehnten stets zunehmende Prozess hat eine für die politische Führung eines Landes angenehme Seite: Regieren gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung wird möglich. Wenn die Regierung fürchten muss, dass eine für unpopulär gehaltene Entscheidung dazu führt, bei der nächsten Wahl hierfür die „Quittung“ zu bekommen, dann wird der zuständige Minister versuchen, eine Entscheidung im Ministerrat herbeizuführen. Sodann wird die Kommission eine Richtlinie erarbeiten. Da das Europäische Parlament seine Entscheidungen in aller Regel im Konsensprinzip trifft, wird die EU-Verordnung dann bald verbindlich und muss durch den Bundestag umgesetzt werden. Dann kann man auf „die da in Brüssel“ wettern, ohne dass jemand wirklich im nationalen Kontext für diese Entscheidung zur Rechenschaft gezogen wird.

Wenn ein Mitgliedsland auf die Idee käme, eine Verordnung der Europäischen Union nicht innerhalb der in der Verordnung vorgesehenen Frist umzusetzen, dann kann die Europäische Kommission ein entsprechendes Verfahren gegen diesen Mitgliedsstaat vor dem Europäischen Gerichtshof einleiten. Vielleicht erinnern Sie sich an den in der CDU/CSU-FDP Koalition vorhandenen Streit der Vorratsdatenspeicherung. Der Bundesinnenminister und die Bundesjustizministerin können sich auf kein neues Gesetz einigen, nachdem das Bundesverfassungsgericht das frühere Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen aus dem Jahr 2008 als verfassungswidrig gekippt hatte. Nun hat die Kommission Deutschland im Juli 2012 verklagt, die Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Wenn die Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof Erfolg haben sollte, ist der Deutsche Bundestag gegen Strafe verpflichtet, das Umsetzungsgesetz zu erlassen, ob dies der Parlamentarier, der über dieses Gesetz zu entscheiden hat, richtig findet oder nicht. Er kann nur entscheiden, wie das Gesetz umgesetzt werden soll.

Dieses Beispiel zeigt, dass das Primat des Parlaments, nämlich Gesetze zu erlassen, in Frage steht. Denn diese Richtlinie wurde von der Europäischen Kommission, also der Exekutive, erlassen, nachdem das deutsche Parlament einen generellen Beschluss gefasst hat, welches es der Bundesregierung erlaubte, einem in der EU ausgehandelten Kompromiss zuzustimmen. Der deutsche Gesetzgeber hat daraufhin ein Gesetz erlassen, welches sich als verfassungswidrig und deshalb nichtig herausstellte. Jetzt müsste mithin ein neues, verfassungskonformes Gesetz verabschiedet werden. Die derzeitige Koalition kann sich aber auf kein neues Gesetz einigen. Der Streit betrifft die Frage, ob Daten anlasslos gespeichert werden dürfen oder ob für die Speicherung ein polizeilicher oder strafrechtlich relevanter Verdacht gegen eine bestimmte Person vorliegen muss.

Mithin streitet man über das WAS, nicht (nur) über das WIE. Darf die Exekutive das Parlament trotzdem zwingen? Ist dem Parlament das Recht genommen, über das WAS zu entscheiden? Kann das nationale Parlament die Regierung zur Änderung einer Richtlinie zwingen, nachdem diese erlassen wurde und Geltung hat?

Diese Fragen sind formal bislang nicht beantwortet, gleichwohl sie den Kern parlamentarischer Demokratie betreffen. Faktisch stellte sich diese Frage nie, weil Regelungen der Europäischen Kommission immer umgesetzt wurden; ihnen gingen in der Regel Rahmenbeschlüsse des Ministerrates, Ermächtigungsbeschlüsse des Parlaments und entsprechende parlamentarische Ausschussberatungen voraus. In dem hier genannten Beispiel war das von der Vorgängerregierung beschlossene Gesetz aber verfassungswidrig; die jetzige Regierung hätte der EU-Verordnung wohl nie zugestimmt – jedenfalls erfolgte der entsprechende Beschluss im Februar 2006 gegen die Stimmen der FDP. Eine neue gesetzliche Regelung wird den schmalen Grad zwischen Verfassungskonformität und Richtlinienrespekt gehen müssen. Was, wenn das nicht gelingen sollte?

Die Bundesregierung war kurzerhand der Auffassung, das Bundesverfassungsgericht sei gar nicht mehr zuständig. Die angegriffenen Normen im Telekommunikationsgesetz entsprächen den “verpflichtenden Vorgaben” der entsprechenden EU-Richtlinie, heißt es zur Begründung. Damit entzögen sie sich “einer Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht am Maßstab der Vorschriften des Grundgesetzes”. (Quelle: http://www.vorratsdatenspeicherung.de/images/vb_breg_2008-11-28.pdf , Seite 13) Mit anderen Worten: Nach Auffassung der Bundesregierung kann die Europäische Union Rechtsakte setzen, die nicht im Einklang mit unserer Verfassung zu stehen brauchen. Wie gut, dass das Bundesverfassungsgericht diesen Rechtsirrtum beseitigt und die Verfassungsklagen für zulässig erachtet hat (Quelle: http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rs20100302_1bvr025608.html, Rz 182). Dass das Bundesverfassungsgericht uns Bürger in diesem Fall Rechtsschutz garantierte, kann nicht darüber hinwegtäuschen, wie weit sich die gestaltende Politik bereits von uns und unserem Grundgesetz entfernt hat. Wer ernsthaft argumentiert, dass sich ein Gesetz nicht mehr an unserer Verfassung zu orientieren habe, der verlässt meines Erachtens den Boden des Grundgesetzes. Dieser Irrweg ist umso einschneidender, wenn der Wegfall des Schutzes unseres Grundgesetzes nicht durch einen europäischen Schutz zumindest gleichstarker Grundrechte ersetzt wird. Dann stünden wir Bürger dem Staat nämlich schutzlos gegenüber. Unsere Abwehrrechte gegenüber dem Staat laufen dann Gefahr, beim Aufbau Europas unter die Räder zu kommen.
Nun gibt es seit dem Jahr 2010 die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Diese Charta war ehemals Teil der Verfassung für Europa, die ja bekanntlich an den Referenden in Frankreich und in den Niederlanden scheiterte und deshalb nicht in Kraft trat. Dennoch sind deren Bestimmungen jetzt in Kraft, nicht als eigenständige Verfassung, sondern als Änderungen zu den bestehenden Verträgen; sie sind sozusagen „durch die Hintertür“ zum Europarecht geworden. Artikel 8 der Charta gewährleistet den Schutz personenbezogener Daten. Leider schützt uns dieses Grundrecht nicht vor der anlasslosen Datenspeicherung. Denn Artikel 8 erlaubt die Verarbeitung der Daten aufgrund einer gesetzlich geregelten legitimen Grundlage – mithin wäre dem Staat auch die Speicherung der Daten erlaubt. Auch mit Artikel 11 der Charta, welche die Freiheit der Meinungsäußerung und Information regelt, wäre kein solcher Schutz zu begründen: denn das vom Bundesverfassungsgericht geschaffene Recht auf informationelle Selbstbestimmung oder das Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme findet sich in der Europäischen Grundrechtscharta nicht wieder. Wäre das Bundesverfassungsgericht unzuständig, wären die vom Bundesverfassungsgericht „geschaffenen“ Grundrechte wieder abgeschafft. Auch wenn ich ein gesetzestreuer Bürger bin, der nichts zu verbergen hat: dass ich für Behörden komplett transparent bin, dass ermittelt werden kann, mit wem ich befreundet bin, wo ich und wie ich meine Freizeit verbringe, wann ich telefoniere und mit wem, welche Internetseiten ich besuche, welche Vorlieben und welche Interessen ich habe, wie mein soziales Netzwerk aussieht, wer mit mir wo gegessen oder ein Bier getrunken hat, wäre und ist mir nicht recht. Der Grünen-Politiker Malte Spitz hat seine Vorratsdaten aus dem Zeitraum August 2009 bis Februar 2010 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht: Wie transparent eine Person wird, indem man die von ihr und über sie gespeicherte Daten analysiert, ist absolut atemberaubend – und zeigt uns, wie wichtig Datenschutz dem Staat gegenüber ist (http://www.zeit.de/digital/datenschutz/2011-02/vorratsdaten-malte-spitz).

Ich nenne dieses Beispiel, um deutlich zu machen, wie wichtig es ist, einen umfassenden Grundrechtsschutz garantiert zu haben, bevor Kompetenzen vom bundesdeutschen Gesetzgeber an Europa verlagert werden.

Und auch hinsichtlich des demokratischen Selbstverständnisses muss die Europäische Union zunächst gestärkt werden, bevor sich Kompetenzen weiter verlagern: Das Europaparlament ist derzeit kein wirkliches Parlament im eigentlichen Sinne. Denn dann müssten alle für die Mitgliedsstaaten verbindlichen Rechtsakte dort verabschiedet werden. Bislang ist das Parlament allerdings neben dem Ministerrat tätig. Dies bedeutet: Wenn der Ministerrat nicht will, gibt es kein Gesetz, auch wenn das Europäische Parlament einem Gesetz mehrheitlich zugestimmt hätte. Alleiniges Initiativrecht für ein Gesetz hat die Europäische Kommission. Das Parlament kann also nicht aus eigener Kraft ein Gesetz erarbeiten und beschließen.

Der griechischen Sage nach ist Europa die Tochter des Phönix und heißt übersetzt: „die [Frau] mit der weiten Sicht“. Deshalb die Frage:

Wohin, Europa, gehst Du?

Wird die Europäische Sozialcharta des Europarats in ihrer revidierten Fassung von 1996 verbindliches Gemeinschaftsrecht? Darin sind die folgenden sozialen Rechte verankert:

• Jedermann muß die Möglichkeit haben, seinen Lebensunterhalt durch eine frei übernommene Tätigkeit zu verdienen.
• Alle Arbeitnehmer haben das Recht auf gerechte Arbeitsbedingungen.
• Alle Arbeitnehmer haben das Recht auf sichere und gesunde Arbeitsbedingungen.
• Alle Arbeitnehmer haben das Recht auf ein gerechtes Arbeitsentgelt, das ihnen und ihren Familien einen angemessenen Lebensstandard sichert.
• Alle Arbeitnehmer und Arbeitgeber haben das Recht auf Freiheit zur Vereinigung in nationalen und internationalen Organisationen zum Schutz ihrer wirtschaftlichen und sozialen Interessen.
• Alle Arbeitnehmer und Arbeitgeber haben das Recht auf Kollektivverhandlungen.
• Kinder und Jugendliche haben das Recht auf besonderen Schutz gegen körperliche und sittliche Gefahren, denen sie ausgesetzt sind.
• Arbeitnehmerinnen haben im Fall der Mutterschaft das Recht auf besonderen Schutz.
• Jedermann hat das Recht auf geeignete Möglichkeiten der Berufsberatung, die ihm helfen soll, einen Beruf zu wählen, der seiner persönlichen Eignung und seinen Interessen entspricht.
• Jedermann hat das Recht auf geeignete Möglichkeiten der beruflichen Bildung.
• Jedermann hat das Recht, alle Maßnahmen in Anspruch zu nehmen, die es ihm ermöglichen, sich des besten Gesundheitszustands zu erfreuen, den er erreichen kann.
• Alle Arbeitnehmer und ihre Angehörigen haben das Recht auf Soziale Sicherheit.
• Jedermann hat das Recht auf Fürsorge, wenn er keine ausreichenden Mittel hat.
• Jedermann hat das Recht, soziale Dienste in Anspruch zu nehmen.
• Jeder behinderte Mensch hat das Recht auf Eigenständigkeit, soziale Eingliederung und Teilhabe am Leben der Gemeinschaft.
• Die Familie als Grundeinheit der Gesellschaft hat das Recht auf angemessenen sozialen, gesetzlichen und wirtschaftlichen Schutz, der ihre volle Entfaltung zu sichern vermag.
• Kinder und Jugendliche haben das Recht auf angemessenen sozialen, gesetzlichen und wirtschaftlichen Schutz.
• Die Staatsangehörigen einer Vertragspartei haben das Recht, im Hoheitsgebiet jeder anderen Vertragspartei gleichberechtigt mit deren Staatsangehörigen jede Erwerbstätigkeit aufzunehmen, vorbehaltlich von Einschränkungen, die auf triftigen wirtschaftlichen oder sozialen Gründen beruhen.
• Wanderarbeitnehmer, die Staatsangehörige einer Vertragspartei sind, und ihre Familien haben das Recht auf Schutz und Beistand im Hoheitsgebiet jeder anderen Vertragspartei.
• Alle Arbeitnehmer haben das Recht auf Chancengleichheit und Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts.
• Die Arbeitnehmer haben das Recht auf Unterrichtung und Anhörung im Unternehmen.
• Die Arbeitnehmer haben das Recht auf Beteiligung an der Festlegung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Arbeitsumwelt im Unternehmen.
• Alle älteren Menschen haben das Recht auf sozialen Schutz.
• Alle Arbeitnehmer haben das Recht auf Schutz bei Kündigung.
• Alle Arbeitnehmer haben das Recht auf Schutz ihrer Forderungen bei Zahlungsunfähigkeit ihres Arbeitgebers.
• Alle Arbeitnehmer haben das Recht auf Würde am Arbeitsplatz.
• Alle Personen mit Familienpflichten, die erwerbstätig sind oder erwerbstätig werden wollen, haben das Recht dazu, ohne sich einer Diskriminierung auszusetzen und, soweit dies möglich ist, ohne daß es dadurch zu einem Konflikt zwischen ihren Berufs- und ihren Familienpflichten kommt.
• Die Arbeitnehmervertreter im Betrieb haben das Recht auf Schutz gegen Benachteiligungen und müssen geeignete Erleichterungen erhalten, um ihre Aufgaben wahrzunehmen.
• Alle Arbeitnehmer haben das Recht auf Unterrichtung und Anhörung in den Verfahren bei Massenentlassungen.
• Jedermann hat das Recht auf Schutz gegen Armut und soziale Ausgrenzung.
• Jedermann hat das Recht auf Wohnung.

Wird Kapitel 4 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union revidiert, das einen unbeschränkten globalen Kapital- und Zahlungsverkehr garantiert?

Ich vermute, dass sich solche Fragen erst stellen, wenn wir den Prozess der Entscheidungsfindung in der Europäischen Union grundlegend verändern. Solche Entscheidungen dürfen nicht mehr bei der Exekutive verortet sein: solche Entscheidungen müssen durch das Volk, durch alle Europäerinnen und Europäer getroffen werden.

Weil die demokratische Verfasstheit der europäischen Mitgliedsstaaten für die Bürgerinnen und Bürger zu einer zwar historisch errungenen, zwischenzeitlich aber gelebten Selbstverständlichkeit geworden ist, wollen viele nicht hinnehmen, von einer Verwaltung regiert zu werden. Die Exekutivlastigkeit von Entscheidungsprozessen ist deshalb kein theoretisches Problem; sie trägt vielmehr das Risiko in sich, dass die Menschen Europas diesen Staatenverbund ablehnen. Dann wäre die Europäische Union Geschichte und wir verfielen in nationalstaatliche Kleinkrämerei.
Diese Gefahr ist keinesfalls eine bloße Drohung. Wir Deutsche müssen verstehen, dass es nur zwei Mitglieder in der Europäischen Union gibt, die eine parlamentarische Demokratie besitzen: Großbritannien und Deutschland. Alle anderen Mitgliedstaaten sind als plebiszitäre Demokratien verfasst, in denen Volksabstimmungen zur selbstverständlichen Wahrnahme der Volkssouveränität gehört. Soweit die Europäische Union als eine Verwaltungseinheit wahrgenommen wird, die Gesetzerlassverpflichtungen den Nationalstaaten aufzwängt, könnte ein zunächst hingenommener Zustand zu destruktiver Ablehnung führen.
In 2012 erwägt Bundesfinanzminister Schäuble öffentlich die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa. Wenn dies bedeutet, dass die in der Union allenthalben zu kritisierenden Demokratiedefizite fortgeschrieben werden, dann wäre ich eher verhalten. Wenn aber die Europäerinnen und Europäer in diesen Vereinigten Staaten das Sagen haben, bin ich sehr dafür. Mir kommt es also sehr darauf an, wie ein vereinigtes Europa aussieht, bevor ich mich entscheiden könnte, für oder gegen die Vereinigten Staaten von Europa zu sein.