Teil II – Demokratie leben

3. Vertrauen

Wie kommt Vertrauen zustande? Muss ich zwingend einen unmittelbares Verhältnis zu demjenigen aufbauen, dem ich vertrauen möchte? Hier ein Beispiel zur Veranschaulichung: Ein Unternehmer wird denjenigen als Abteilungsleiter einstellen, den er für befähigt erachtet und ihm entsprechend seiner Aufgaben die Verantwortung und Macht übertragen, diese Abteilung zu leiten. Nun ist es deshalb sinnvoll, ja unerlässlich, dass sich der Unternehmer und der Bewerber für die Abteilungsleiterstelle kennen lernen. Nur wenn der Unternehmer einen „Eindruck“ von diesem Bewerber bekommen hat, kann er zu ihm Vertrauen aufbauen. Der Bewerber ist dem Unternehmer mithin nicht mehr ganz so fremd, wie vor dem persönlichen Gespräch. Der Unternehmer kann seinen Drang zur Vorsicht etwas zurück nehmen, ein Risiko zur falschen Personalentscheidung eingehen, wenn die Chancen, mit dieser Person die Abteilung des Unternehmens zu stärken, überwiegt. Und schon ist der Unternehmer ein Wagnis eingegangen und hat eine Entscheidung getroffen.

In größeren Unternehmen wird diese Entscheidung bekanntlich regelmäßig delegiert. Der Vorstandsvorsitzende eines Konzerns bekommt den Abteilungsleiter gelegentlich erst zu einem Dienstjubiläum zu Gesicht. Denn der Vorstandsvorsitzende vertraut seinen Vorstandskollegen und diese ihren Direktoren. Das Motto lautet: Dein Freund ist auch mein Freund. Für den Vorstandsvorsitzenden ist folgendes Motto noch viel wichtiger: Du, Vorstandskollege, bist mir gegenüber für diese Entscheidung verantwortlich. Gleiches sagt sich der Vorstandskollege, wenn er mit seinem Direktor ins Gericht geht. Für den Direktor aber gilt: Wenn ich feststelle, dass meine Entscheidung falsch war, darf ich sie korrigieren. Das ist beruhigend.

Die Delegation von Verantwortung hat breiten Platz in unserem Leben eingenommen. Bekanntlich ist die Mund-zu-Mund-Propaganda ja die effektivste Verkaufsstrategie. Nun ist dies für Produkte nachvollziehbar, die von Menschen meines direkten Lebensumfeldes ausprobiert und für gut befunden wurden.
Gilt dieses Vertrauen auch, wenn ich in einem Verkaufsportal im Internet eine Bewertung von „trixi2855“ lese? Ich kenne trixi2855 nicht. Ist sie am 2.8.1955 geboren oder einfach die 2855ste Trixi bei web.de? Dennoch lese ich ihre Produktbewertung und vertraue ihr, wenn ich den Eindruck habe, sie sei ehrlich. Komisch ist das schon, denn trixi2855 könnte ja in der realen Welt ein Verkaufsagent sein, der sein Produkt ungerechtfertigt über den grünen Klee hinaus belobt.

Ich könnte an dieser Stelle selbstverständlich viele Beispiele dafür anführen, dass wir sehr leicht bereit sind, anderen Menschen Vertrauen zu schenken, wenn es um Alltagsentscheidungen geht. Denn wir können gar nicht anders. Wir sind darauf angewiesen, anderen Menschen zu vertrauen. Und häufig wird das Vertrauen durch positive Alltagserfahrungen gerechtfertigt.
Wenn Vertrauen aber über „mittelbare“ Kontakte aufgebaut werden kann, um Alltagsentscheidungen kompetent Dritten anzuvertrauen, geschieht dies dann auch in anderen Lebensbereichen, beispielsweise im Politischen?

In der Tat gilt Gleiches auch bei unserer Entscheidung bei Parlamentswahlen. Wahlforscher wissen, dass es sehr wichtig ist, Portraits der Bewerber für ein politisches Mandat auf Wahlkampfplakaten zu zeigen. Ein Bild der Kandidatin erhöht bei den Wählern das Vertrauen in diese Person. Hinsichtlich der Mechanismen zur Werbung um Vertrauen unterscheidet sich ein Wahlkampfspot kaum von der Waschmittelwerbung.

Weil uns das Vertrauenschenken so vertraut ist, machen wir bereitwillig das Kreuz bei der Kandidatin oder dem Kandidaten, dessen Abbild uns sympathisch ist. Jedenfalls waren für mich die Wahlslogans von „Wohlstand sichern!“, „Frieden und Freiheit“ oder „Abzocke stoppen!“ noch nie inhaltsschwer genug, hierauf meine Wahlentscheidung zu gründen.
Im Gegenteil: Die Verflachung der Inhalte, die Parteien in den Wahlkampfauseinandersetzungen anbieten, regt mich zunehmend auf. Denn zwischen der Kunst, einerseits schwierige Sachverhalte in verständlicher Form aufzubereiten und andererseits der Verflachung der Inhalte besteht eine tiefe Kluft. Letzteres ist eine Verdummung der Bevölkerung, ersteres der Versuch zur Aufklärung und Erklärung eines Sachverhaltes.

Während des Wahlkampfes ist die Verflachung der Inhalte besonders unerträglich. Denn ich möchte mich innerlich dagegen wehren, diesem Versuch der Verdummung Aufmerksamkeit zu schenken. Das ist in Innenstädten während des Wahlkampfes fast unmöglich. An den Wahlkampfständen fehlt es selten an Luftballons, Kugelschreibern, ja selbst an Kondomen. Aber das Parteiprogramm? Fehlanzeige. „Davon kriegen wir von der Zentrale immer nur fünf Exemplare. Die sind heute schon weg. Tut mir leid!“ Oder ich werde auf das Internet verwiesen. Da stehe es ja auch drin. Ich sei doch netzaffin?

Diese Entkopplung von Inhalten bei Wahlen hat System. Denn es soll über Parteien und/oder über KandidatInnen für politische Mandate entschieden werden, denn bei Wahlen wird nicht über Inhalte abgestimmt. Seid ich mir diesen Unterschied verdeutlicht habe, kann ich die Wahlplakate auch besser ertragen. Das ist beruhigend…

Halt. Stopp. Ist das wirklich beruhigend? Liegt hier nicht ein Gedankenfehler verborgen? Fehlt da nicht doch noch ein Baustein? Nach der Wahl ist vor der Entscheidung über anstehende Sachfragen, die in Gesetzesform von Parlamenten entschieden werden. Deswegen: Na klar fehlt ein Baustein. Es fehlt die Möglichkeit, über Sachfragen abzustimmen. Wenn alle Bürgerinnen und Bürger dauerhaft die Möglichkeit hätten, alle Entscheidungen, die in den Parlamenten getroffen werden, selbst zu treffen, dann wäre der Wahlkampf um die Volksvertreter zu ertragen.

Weil dieser Baustein fehlt, schwindet mein Vertrauen in das politische System ausschließlich repräsentativer Demokratie, so wie sie heute ist.
Für mich ist offensichtlich: Durch die vorangeschrittene Delegation der Volkssouveränität ist das Vertrauen, welches ich in politische Akteure setzte, an seine Grenzen gekommen. Erst war Vertrauen da, dann wurde ich skeptisch. Jetzt ist das Vertrauen weg, einem geplatzten Luftballon gleich. Jetzt kann ich Vertrauen nicht mehr aufbauen. Oder ist es Ihnen schon mal geglückt, einen geplatzten Luftballon wieder aufzublasen?
Aber: mir fehlt das verloren gegangene Vertrauen schmerzlich. Denn Politik, also die Vereinbarung über das, was uns alle betrifft, unser Gemeinwohl nämlich, ist und bleibt wichtigstes Element unseres Gemeinwesens. Ohne Vertrauen lässt sich Politik nicht machen.
Meine Frau und ich sind seit über zwölf Jahren mit einem kleinen Unternehmen selbstständig. Ich weiß deshalb: mich können andere beraten. Aber entscheiden muss ich selbst. Ich kann auch nicht gegen Geld anderen meine eigenen Probleme „verkaufen“. Denn am Ende stehe ich mit diesen Problemen alleine da, wenn ich sie nicht löse. Selbstständig kommt von „selbst“ und „ständig“. Vielleicht wird es Zeit, dass wir auch in der politischen Welt „selbst-ständig“ werden.
Konkret müssen wir uns also selbst fragen. Sie, liebe Leserin und lieber Leser müssen sich fragen, ob Sie sich und Sie mir die Kompetenz zusprechen, politische Entscheidungen zu treffen. Und wir müssen uns gegenseitig die Frage beantworten, ob wir uns gegenseitig über den Weg trauen. Ich habe mich entschieden: Ich traue Ihnen.

Und: Ich traue Ihnen alles zu. Es gibt keine verbotenen Themen, mithin Themen, über die Sie nicht kompetent entscheiden könnten. Ich traue Ihnen auch zu, dass Sie verantwortungsvoll für sich entscheiden, inkompetent zu sein, eine Frage verantwortungsvoll zu entscheiden. In aller Regel werden Sie jedoch über das Können verfügen, sich die von Ihnen als notwendig erachteten Grundlagen zu erarbeiten, um sich in die Lage zu versetzen, eine sachgerechte, kompetente Entscheidung zu treffen. Sie tun dies ohnehin jeden Tag mannigfach, ob im Beruf oder ihrem Privatleben. Sie haben sich die Methoden, wie Sie sich diese Entscheidungskompetenz aneignen, längst erworben. Es gilt allenthalben, diese Kenntnisse auf politische Entscheidungen zu übertragen.