Teil II – Demokratie leben

2.2. Kompetenz im Sinne von Dürfen

Nun zu der Frage: Dürfen wir entscheiden?

Es gibt einige interessante Demokratiebewegungen in der Bundesrepublik, wie beispielsweise Mehr Demokratie e.V. oder die Volksentscheidsbewegung. Sie alle eint der Wunsch nach mehr Teilhabe an politischen Entscheidungsprozessen.

Direktdemokratische Bewegungen müssen sich zwei Themen widmen, die alternativ zu diskutieren sind: Das eine Thema betrifft den Prozess einer Entscheidungsfindung, der im Vergleich zu repräsentativen, parlamentarischen Entscheidungsprozessen das Volk, die Bürgerin und den Bürger, einbezieht. Das andere Thema betrifft die Frage des Inhaltes einer Entscheidung, mithin sowohl den Gegenstand der Entscheidung („was“ soll entschieden werden), als auch die Qualität der Entscheidung („gut“ oder „schlecht“ entschieden). Wie gesagt: Beide Themen kann und darf man nicht miteinander vermischen. Man kann entweder den Prozess einer Entscheidung oder den Inhalt einer Entscheidung diskutieren.

Weil bei der Diskussion um mehr Bürgerbeteiligung beide Themen häufig miteinander vermischt werden, die Unterscheidung zu treffen und durchzuhalten aber ganz entscheidend ist für die eigene Position zum Für und Wider direktdemokratischer Prozesse, möchte ich hier ein Beispiel anfügen, um diese Unterscheidung zu verdeutlichen: Unser Sohn Fabian ist derzeit vierzehn Jahre alt. Meine Frau und ich finden, dass es Zeit für ihn ist zu beginnen, Entscheidungen für sich selbst zu treffen. Wir erlauben ihm mithin eine Entscheidung beispielsweise über den Zeitpunkt, wann er abends ins Bett geht. Wenn er sich nach unserer Meinung falsch entscheidet („Ich gehe erst um 2.00 Uhr morgen früh ins Bett“) dann können (und dürfen!) wir nicht sagen: Moment, jetzt entscheidest du dich falsch, du gehst um 21.00 Uhr ins Bett. Eltern stehen zwangsläufig irgendwann vor diesem Dilemma. Wenn sie ihr Kind nicht selbst entscheiden lassen – auch wenn die Entscheidung vermeintlich „schlecht“ ist – kann das Kind nicht erwachsen werden. Dann besteht nämlich die Gefahr, dass die Eltern ihrem Kind noch mit 40 Jahren vorschreiben, was es zu tun hat. Und selbstredend müssen Eltern mit ihrem übermüdeten 14-jährigen Kind leben. Das schöne ist, dass die meisten Kinder es lernen, verantwortungsbewusst mit ihrem Schlafbedürfnis umzugehen; das trägt mit zum Erwachsenwerden bei.
Vielleicht geht es im Politischen auch darum, ob unsere junge deutsche Nachkriegsdemokratie, und mehr noch – ob wir Deutsche – uns von unseren Großeltern und deren nationalsozialistischer Vergangenheit, ob nun Schuld und/oder Trauma, abnabeln können und erwachsen werden.

Mithin geht es um Prozess oder Inhalt.

Hinsichtlich des Entscheidungsprozesses haben es Bewegungen für mehr direkte Demokratie mit dem Problem zu tun, dass in der Bundesrepublik Deutschland Volksabstimmungen stets als Volksentscheid ausgestaltet sind. Bei einem Volksentscheid hat das Volk „das letzte Wort“, statt des Parlamentes. Weil dies so ist, gibt es hinsichtlich des Volksentscheides gewichtige Bedenkenträger: Wenn nämlich durch den Volksentscheid ein Gesetz unmittelbare Bindungswirkung entfaltet, dann muss man hinsichtlich dieses Instrumentes sehr vorsichtig sein. Entsprechend hoch sind die Hürden ausgestaltet worden, die zu nehmen sind, bevor es zu einem Volksentscheid kommen kann.

In den Bewegungen für mehr Demokratie wird folglich über die Absenkung der Hürden für Volksbegehren, Volksbefragung und Volksentscheid diskutiert.

Diese Hürden sind in der Tat sehr hoch. Allein um zu erreichen, dass sich die Volksvertreter mit einer Frage erneut in einem Landesparlament beschäftigen, müssen Hunderttausende zum Bürgeramt gehen, um sich dort registrieren zu lassen und dort zu bekunden, dass sie diese erneute Diskussion im Parlament „begehren“. Für die Organisatoren eines solchen Volksbegehrens ist dies ein erheblicher Aufwand; für die Bürgerämter bedeutet dies zuweilen ein deutlich erhöhter Bürgerandrang, gerade in den ersten und letzten Tagen der Frist, innerhalb derer sich die Bürgerinnen registrieren lassen müssen, wenn sie an dem Begehren teilnehmen möchten.

Sollte es den Organisatoren gelingen, die Bürgerinnen ausreichend zu mobilisieren wird dies bisweilen schon als Erfolg gefeiert. Im Ergebnis bedeutet dieser „Erfolg“ jedoch nur, dass sich das Parlament, in dessen Bundesland ein solches Volksbegehren stattfand, mit dem Gegenstand des Begehrens erneut befasst. Üblicherweise werden dann die Landespolitiker Krokodilstränen vergießen. Sie werden Verständnis für die Belange der Bürgerinnen bekunden. Sodann wird ein Formelkompromiss gesucht, um den Bürgerinnen entgegen zu kommen. Nur wenn dem Begehren überhaupt nicht entsprochen wird und das Gesetz unverändert bleibt, eröffnet sich für die Bürger die Möglichkeit für das Einleiten eines förmlichen Volksentscheids.
Die vermeintliche Missachtung des Bürgerwillens ist mithin die Voraussetzung für die Geburt eines Volksentscheids. Es ist ein Kräftemessen zwischen Berufspolitik und Bürgermeinung. Es ist – systemimmanent – ein „Wir“ gegen „die anderen“. Kommt es zu einem Volksentscheid, wird zuvor moralisch und verbal aufgerüstet: Ja oder Nein, Freund oder Feind, Sieg oder Niederlage. Eine Mediation ist dann kaum noch vorstellbar. Ein solcher Prozess hinterlässt tiefe Wunden und Enttäuschungen. Deshalb ist ein Volksentscheid häufig kein Jubeltag für die Demokratie. Sie ist es auch dann nicht, wenn sich das Volk in der konkret zu entscheidenden Sachfrage gegen die Politik der Landesregierung richtet. Dann werden Rücktrittsrufe laut oder Neuwahlen gefordert. Ein Albtraum für jeden Berufspolitiker, der sich sodann an Adenauer´s Credo erinnern mag: Keine Experimente!

Zugestanden: In Baden-Württemberg war es ja bekanntlich anders herum: Dort wurde erst der Empörung über das Verhalten ihres Landesvaters Luft gemacht, indem Ministerpräsident Mappus im Mai 2011 abgewählt wurde, um sodann in der Sache mehrheitlich seine Entscheidung hinsichtlich des Stuttgarter Hauptbahnhofs zu stützen. Aber dies war freilich eine Ausnahme. Der Volksentscheid über die Schulreform in Hamburg im Juli 2010 und der Ausgang der Hamburger Bürgerschaftswahl im Februar 2011 sei hier nur beispielhaft dafür genannt, dass in den wenigen Volksentscheiden unserer Republik eine Entscheidung gegen die Politik einer Landesregierung häufig auch der Anfang vom Ende dieser Regierung war. Deshalb kann es nicht verwundern, wenn Berufspolitiker tendenziell Volksentscheide für ein gefährliches Spiel halten, die Voraussetzungen für einen Volksentscheid daher möglichst hoch hängen und im Vorfeld eines solchen Prozesses darauf bedacht sind, einen solchen Entscheid tunlichst zu vermeiden.

In diesem Klima kommen nun Vereine daher, die sich diesem „Teufelszeug“ verschrieben haben. Die Berufspolitik kann gar nicht anders, als in diesen Bewegungen eine potentielle Gefahr zu sehen. Nun wären Politiker nicht Berufspolitiker, wenn ihnen dabei noch der Schweiß auf die Stirn träte. Mit jovialem Gestus begrüßen die einen Politiker das grundsätzliche Anliegen der Demokratiebewegung und stellen sie in den Dienst eines vermeintlichen Kampfes gegen Politikverdrossenheit, während andere Politiker sich mit Nachdruck für eine repräsentative Demokratie aussprechen und die Gefahr beschwören, die mit Fehlentscheidungen durch Unwissenheit der breiten Bevölkerung, mithin schlicht mit dessen Dummheit, verbunden ist.

Wer eine solche Konfrontation vermeiden und die Hürden für Bürgerbeteiligung herabsetzen will, muss letztlich die Konsequenzen einer Abstimmung durch das Volk neu justieren. Ich schlage vor, ein neues Instrument der „Volksabstimmung“ einzuführen, welches sich durch den „Volksentscheid“ dadurch unterscheidet, dass das Volk hierbei nicht „das letzte Wort“ hat, sondern seine Abstimmung dem Parlament zugeleitet wird mit der Aufforderung, eine parlamentarische Entscheidung herbeizuführen, die dieser Abstimmung im Ergebnis entspricht. Dieser Anspruch leitet sich aus dem demokratischen Verständnis eines Parlamentes als Volksvertretung ab. Im Gegenzug werden alle Hürden für eine solche Abstimmung abgeschafft. Man braucht weder im Vorfeld Bürgerbegehren, noch Unterschriftenlisten, noch bürokratische Formalismen. Und man ist hinsichtlich des Themas einer Volksabstimmung nicht mehr begrenzt; grundsätzlich wird über jedes Gesetz abgestimmt, das den Landesparlamenten, dem Deutschen Bundestag oder dem Europäischen Parlament vorliegt.

Zu unterscheiden sind Volksbegehren und Volksentscheid übrigens von der Volksbefragung. Hier wird das Volk auf Initiative des Parlamentes befragt. Volksbefragungen durchzuführen sind nicht selten sehr kluge Entscheidungsprozesse, die keinesfalls dazu taugen, nach erfolgter Befragung die Berufspolitik in die Wüste zu schicken. Im Gegenteil: Zahlreiche Beispiele solcher Befragungen zeigen, dass die etablierte Politik durch solche Befragungen gestärkt und nicht geschwächt wird.

In Potsdam fand im Frühjahr 2012 eine Bürgerbefragung statt. Die Bürgerinnen sollten sich dazu äußern, ob das alte Stadtschwimmbad saniert oder ob ein neues städtisches Schwimmbad an einem anderen Standort gebaut werden soll. Die Befragung wurde begleitet durch eine Mediation. In drei aufeinander aufbauenden Konferenzen wurde versucht, nicht nur die Alternativen Abriss oder Neubau zu beleuchten, sondern darüber hinausgehende Vorschläge zu erarbeiten. Das Interesse der Bürgerinnen war sehr hoch, die Einschätzung der Bürgerinnen erwartungsgemäß geteilt. Nach der Befragung wurde die Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger hinsichtlich dieses Entscheidungsprozesses gemessen: die überwältigende Mehrheit, übrigens auch bei denjenigen, die in der Entscheidung unterlegen waren, fand den Prozess ausgesprochen gelungen.
Ein anderes Beispiel aus Hamm in Westfalen: Dort sollte ein Stadtsee entstehen, wo bislang ein Segelflugplatz war. Der Oberbürgermeister, der eigentlich für den See eintrat, auch weil die Stadt dafür millionenschwere Hilfen von der Europäischen Union beanspruchen konnte, ließ das Volk  im Rahmen eines freiwilligen Ratsbürgerentscheids im Juni 2006 über diese Angelegenheit entscheiden. Sofort entstanden Gesprächsforen, Kirchengemeinden luden zu Vortragsveranstaltungen ein. Ob im Tennisklub oder der Kneipe: überall wurde diskutiert, ob man den See nun haben wolle oder nicht. Ob Gastronom oder Ökonom: alle brachten ihr jeweiliges Fachwissen ein. Am Ende wurde das Projekt mit großer Mehrheit abgelehnt und auf die EU-Förderung verzichtet, auch weil die mit dem Bau von der Stadt zu tragenden Kosten so hoch gewesen wären, dass allein wegen der Zinsen eine Reihe wichtiger Aufgaben von der Stadt nicht mehr hätten bewältigt werden können. Trotz des Debakels für den Oberbürgermeister in Hamm – er trat ja vehement als Verfechter des Seeprojekts ein – wurde der Prozess des freiwilligen Volksentscheids letztlich für ihn ein Erfolg. Weil sich die Bürgerinnen in dieser Sachentscheidung mehrheitlich ernst genommen fühlten, tat ihm der Umstand, dass er inhaltlich anderer Auffassung war als seine Bürgerinnen, keinen Abbruch. Nicht nur, aber vielleicht auch wegen dieser Befragung ist der Oberbürgermeister im Jahr 2009 mit 63,2 % der Stimmen in seinem Amt bestätigt worden.
Wenn ich diese beiden Beispiele der Volksbefragung und des freiwilligen Ratsbürgerentscheids mit dem Beispiel des Volksentscheids zum Stuttgarter Hauptbahnhof miteinander vergleiche, lerne daraus zwei Dinge:
Zum einen kann der Berufspolitik die Überantwortung einer Entscheidung auf das Volk sehr wohl zum Guten gereichen, wenn sie es versteht, den Bürgerinnen mit Respekt zu begegnen und sie in den Entscheidungsprozess maßgeblich einzubinden. Dabei scheint es unerheblich zu sein, ob der regierende Politiker in der Sache für oder gegen eine Entscheidung ist. Er wird allein deshalb hiervon profitieren, weil er das Volk fragt und verspricht, das zu tun, was die Mehrheit der Bürgerinnen entscheidet. Wenn ein Berufspolitiker jedoch versucht, nach Kräften alles zu tun, um das Volk „außen vor“ zu halten und seine eigene Entscheidung „durchzudrücken“, wird er von den Bürgerinnen bei der nächsten Wahl abgestraft, auch wenn das Volk in der Sache mehrheitlich seiner Auffassung war, den Bahnhof unter die Erde zu legen.
Und zum anderen lerne ich: Die Bürgerinnen, die Teil dieser Entscheidungsprozesse waren, haben sich ihre jeweilige Entscheidung nicht leicht gemacht. Ich habe die beiden Beispiele aus Potsdam und Hamm deshalb mit Bedacht aus den bislang erfolgten Volksbefragungen ausgewählt, weil sie beide etwas mit mir und meinem Umfeld zu tun haben. Die Entscheidung in Hamm in Westfalen konnte ich durch meine Eltern vermittelt verfolgen, die in dieser Stadt am Rand des Ruhrgebietes seit über 40 Jahren leben. Noch nie habe ich soviel Detailwissen im Bereich der kommunalen Selbstversorgung und des kommunalen Haushaltsrechts oder über kommunale Förderprogramme der Europäischen Union von meiner Mutter (sie war zum Zeitpunkt des Bürgerentscheids 67 Jahre alt) gehört, wie in den Wochen und Monaten vor der Entscheidung. Ich lebe in der Nähe von Potsdam und habe daher direkt erfahren, welchen fundamentalen Unterschied es bei den Menschen macht, ob sie sich lediglich interessehalber informieren oder ob sie an einer Entscheidung durch Stimmabgabe beteiligt sind. Die Ernsthaftigkeit, mit der diskutiert wurde, mit der in Bedarfsplanung und Marktanalysen eingestiegen wurde, hat mich wirklich sehr erfreut.
Damit will ich auch sagen: Wenn wir uns erst einmal das Recht genommen haben zu entscheiden, wird ein Prozess in Gang kommen, der uns in unserer Entscheidungsfindung stärkt und befähigt. Wir werden an unseren Aufgaben wachsen; es übt sich, politische Entscheidungen zu treffen: Können und Dürfen beflügeln sich gegenseitig.