Teil II – Demokratie leben

1. Mut zu entscheiden

„Mehr Demokratie wagen“ heißt es bisweilen an der Eingangspforte zu den häufig im Souterrain eines Hinterhauses gelegenen Vereinsbüros der Demokratiebewegung. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, wenn Sie von diesem „Wagnis“ hören: mir klingt es sehr nach Kleinmut, Unsicherheit und Angst. Es beschleicht mich das Gefühl, dass diejenigen, die „mehr Demokratie wagen“ möchten, zur Vorsicht mahnen, wo ein offenes Herz und Vertrauen gefragt sind. Im Übrigen glaube ich nicht daran, dass man Demokratie teilen kann in ein Mehr und ein Weniger. Denn Demokratie fängt bei jedem von uns an. Wenn ich mich informieren kann, möchte ich auch mitreden. Wenn ich mitrede, möchte ich letztlich auch mitbestimmen. Im Alltag und – warum denn nicht? – auch in der Politik. Da gibt es für mich kein Wenn und kein Aber, keine Beschneidungen der Themen, die sich nach Ansicht anderer für meine Mitbestimmung eignen würden. Und es gibt kein Verweis auf die Zukunft, weil ich angeblich noch nicht reif genug sei zur Mitbestimmung.

Ich behaupte, dass wir den Mut zu entscheiden dann aufbringen, wenn wir uns in unseren Stärken und Schwächen realistisch einzuschätzen vermögen.

Sind Sie Teil der Menschen, die sich selbst als guten Autofahrer einschätzen würden? Dann sind Sie in guter Gesellschaft. Nach einer Studie der AXA und der Auto-Bild sind 55 % aller Autofahrer voll und ganz der Meinung, dass sie gut autofahren. Weitere 40 % der Autofahrer meinen immerhin, dass diese Einschätzung zutrifft. Mithin schätzen sich lediglich 5 % der Befragten als mäßige oder schlechte Autofahrer ein.

Möglicherweise ist diese Einschätzung ein wenig zu selbstgefällig, auch wenn die Unfallzahlen stetig sinken und im September 2012 mit 330 Verkehrstoten der niedrigste Wert seit Beginn der vom Deutschen Verkehrssicherheitsrat geführten Unfallstatistik im Jahre 1957 erreicht wurde. Denn bei 2.361.457 von der Polizei erfassten Straßenverkehrsunfällen im Jahr 2011 muss man redlicherweise dem einen oder anderen Autofahrer absprechen, ein „guter Autofahrer“ zu sein; sonst wäre es wohl kaum zu einem Unfall gekommen.

Ich bringe dieses Beispiel, weil wir alle, mich namentlich eingeschlossen, zu Selbstüberschätzung neigen. Selbstüberschätzung ist keine negative Charaktereigenschaft, sondern recht natürlich. „Alle kümmern sich um sich selbst. Nur ich, ich kümmere mich um mich…“ ist ja nicht nur ein Kalauer. Während der wichtigen frühkindlichen Phase waren wir faktisch alleine, weil wir nicht einmal unsere Mutter wirklich erkennen und spüren konnten. Die eigentliche Bindungsentwicklung eines Kindes beginnt in der Regel im sechsten Lebensmonat und dauert bis zum dritten Lebensjahr an. Da verwundert es nicht, dass einige Erwachsene es nie erfahren haben, sich in die Situation eines anderen hineinversetzen zu können. Erst durch Kränkungen lernen wir, dass wir kein Superstar sind.
Selbstüberschätzung wird durch vier Dinge befördert:
• Wir schätzen uns selbst eher als kompetent und sachkundig ein;
• Wir tendieren dazu, uns in einem guten Licht darzustellen, als unser Können „unter den Scheffel zu stellen“,
• Wir beschäftigen uns lieber mit Informationen, die unsere These, ein toller Hecht zu sein, stützen; und
• Wir erinnern uns besser an unsere eigenen Taten als an diejenigen anderer.

Wenn diese Selbstüberschätzung dann einher geht mit einer Tendenz, zu großes Vertrauen in unser eigenes Urteil zu haben, dann wird man objektiv eine falsche Entscheidung treffen, obwohl man sich doch hundertprozentig sicher war, die richtige Entscheidung zu treffen. (Dissertation Mark Schweizer, Kognitive Täuschungen vor Gericht, Zürich 2005.)

Vor dieser Erfahrung wäre Demut vielleicht ein besserer Ratgeber als Selbstüberschätzung.

Die Zeit online schrieb im September 2010, dass Selbstüberschätzung vor allem durch eine charakterliche Deformation begünstigt wird: Narzissmus. Wer davon betroffen ist, sucht ständig nach Anerkennung und Bewunderung. Er ist so sehr von sich überzeugt, dass das Wort “Fehler” in seinem Wortschatz gar nicht erst auftaucht. Wird der Narzisst doch mal mit einer Panne konfrontiert, schiebt er sie gekonnt auf Unterstellte. „Am Erfolg bin ich beteiligt, am Misserfolg sind andere Schuld“, so lautet die Devise vieler Menschen.
Wer von seinen Mitmenschen in seiner Selbstwahrnehmung nicht gespiegelt wird und ihm dadurch nicht die Chance gegeben ist, seine etwaige Selbstüberschätzung zu korrigieren, wer sich gar vorsätzlich mit Claqueuren umgibt, der wird ungern anderen Menschen das Recht einräumen, gleichberechtigt wie er über Dinge entscheiden zu dürfen.
Es bedarf aber immer mindestens zwei, um aus einem Menschen den „großen Zampano“ zu machen, nämlich denjenigen, der sich selbst überschätzt und derjenige, der diesem Menschen die Rolle zuschreibt, Unmögliches möglich zu machen. Wir müssen uns folglich alle gut überlegen, ob wir uns selbst entscheiden wollen, oder ob wir uns in unseren Entscheidungen vertreten lassen.
Sicherlich mag es zunächst der einfachere Weg sein, andere für sich entscheiden zu lassen. Wenn ich andere für mich entscheiden lasse, habe ich immer noch die Möglichkeit, mich später zu beschweren, falls die Dinge nicht so liefen wie gedacht.

Wenn allerdings die Tendenz, lieber den einfacheren Weg zu gehen, mit der Befürchtung gepaart ist, ich sei selber nicht kompetent genug (im Sinne von Können), eine Entscheidung in einer Sache zu treffen, dann ist die Gefahr groß, nicht das zu bekommen, was man eigentlich haben wollte.

Der Klassiker ist natürlich das Überraschungsgeschenk zu Weihnachten. In den Tagen nach den Festtagen sind die Läden voll, weil dann alle Leute die ungeliebten Weihnachtsgeschenke umtauschen und die Dinge erwerben, die sie wirklich haben wollen.
Auf die Politik übertragen heißt dies doch: Es reicht nicht aus, uns den Menschen zu wählen, der für uns einkaufen geht. Wir müssen uns unser Geschenk selber kaufen. Ich hoffe, Sie verstehen trotz dieser Plattitüde, worauf ich hinaus will: Wir müssen entscheiden, was wir haben möchten. Wir müssen uns endlich zutrauen, über eine Sache zu entscheiden. Es reicht nicht aus, eine Person (oder Partei) zu wählen, die diese Sache für uns, an unserer Statt, entscheiden soll.

Nun könnte man einwenden, mit jeder Wahl sei auch eine Richtungsentscheidung verbunden. Beispielsweise wurde gemutmaßt, dass mit der überwältigenden Mehrheit der „Allianz für Deutschland“ bei den letzten Volkskammerwahlen der DDR 1990 eine Volksabstimmung über die Einheit Deutschlands verbunden gewesen sei. Wahlkämpfer geben bisweilen gerne dem Wähler zu bedenken, dass es bei der anstehenden Wahl um eine „Richtungsentscheidung“ gehe, ob Obama vs. Romney im November 2012, Röttgen gegen Kraft im Mai 2012 oder die Wahl zum neuen Parteivorsitzenden: Immer wieder wird der Versuch unternommen, eine Wahl über Parteien oder Personen zu verbinden mit einer Entscheidung über Inhalte.

Die FAZ zitierte im September 2006 den damaligen Vizekanzler Franz Müntefering mit den Worten: „Ich bleibe dabei: Dass wir oft an Wahlkampfaussagen gemessen werden, ist nicht gerecht“. Das löste einen regelrechten Sturm der Entrüstung in der Bevölkerung aus, interpretierten viele seine Aussage doch so, als ob Müntefering es unfair fände, nach der Wahl an seine Wahlversprechen vor der Wahl erinnert zu werden. Auch wenn Müntefering in der Folge klarstellte, dass er einen Unterschied zwischen einem Wahlversprechen seiner Partei einerseits und den in einer Koalition letztlich durchsetzbaren politischen Entscheidungen andererseits hatte ziehen wollen, so wurde doch durch diese Auseinandersetzung klargestellt, dass mit einer Wahl eben kein Anspruch auf eine konkrete inhaltliche Entscheidung verbunden ist, die durch den Gewählten umzusetzen wäre.