Teil II – Demokratie leben

2.1. Kompetenz im Sinne von Können

Ein guter Freund von mir, Informatiker und Physiker, bezweifelte die notwendige Sachkompetenz in der Breite der Bevölkerung, um schwierigere Sachverhalte kompetent entscheiden zu können. Mein Bruder, Professor, gab zu bedenken, dass das hohe Bildungsniveau des unmittelbaren sozialen Umfeldes, in dem er und ich uns bewegen, möglicherweise die Sicht auf die Dinge verzerren: Populismus und ideologische Verbrämungen könnten um sich greifen, sachfremde Argumente sich Raum verschaffen und damit eine sachgerechte Entscheidung erschweren.
Diese Argumente sind gewichtig. Im Ergebnis können sie meines Erachtens allerdings nicht dazu führen, die Forderung zu relativen, dass wir alle über die Dinge selbst entscheiden, die uns betreffen. Vielmehr muss es darauf ankommen, das analytische Vermögen der Bürgerinnen zu stärken. Hier werden Massenmedien, das Fernsehen wie das Internet gleichermaßen, eine gewichtige Rolle einnehmen.

Ob nun Günter Jauch am Sonntag, Frank Plasberg am Montag, Sandra Maischberger am Dienstag, Anne Will am Mittwoch, Maybrit Illner oder Reinhold Beckmann am Donnerstag: fast jeden Tag gibt es Talkshows in der ARD, dem ZDF oder auf einem der öffentlich-rechtlichen Regionalsender und natürlich im Privatfernsehen.

Heute sind diese Talkshows Ausdruck gelebter Zuschauerdemokratie: Es werden aktuelle politische Themen diskutiert während die Moderatoren viel damit zu tun haben, dass die Leute wenigstens einen Halbsatz sagen können, bevor sie sich gegenseitig ins Wort fallen. Und wir? Wir sitzen da vor unseren Fernsehern und schauen zu. Manchmal entwickelt sich die eine oder andere Diskussion vor dem Fernseher, also bei uns zu Hause. Dann ist wieder Ruhe und wir schauen wieder zu. Dann arbeitet es in mir, ich versuche, mir eine Position zu erarbeiten. Bin ich dafür? Bin ich dagegen? Ist es so einfach, ist es eine ja-nein, eine schwarz-weiß Entscheidung? Oder ist es komplizierter? Dann versuche ich, einem Hobby ähnlich, die genaue Gegenposition im Kopf zu durchdenken. Geht das? Wie fühle ich mich dabei? Fehlen mir Informationen? Dann schaue ich wieder zu. Dann ist die Sendung zuende und ich gehe ins Bett. Dort kann ich vor lauter Zuschauerfrust gar nicht einschlafen.

Die Talkshows im Fernsehen sind für mich deshalb frustrierend anzuschauen, weil ich nach der Show ja nicht weiß, was ich mit meiner nunmehr gebildeten Meinung anfangen soll. Also schalte ich den Fernseher nach der Sendung aus und überlasse anderen die Entscheidung. Anderen, die reifer sind als ich und deshalb kompetenter als ich, diese Entscheidung zu treffen. Anderen, die reifer sind als ich und deshalb kompetenter als ich? Halt! Moment mal! Und hier beginnt dann der Frust.

Wenn wir Zuschauer jedoch zu Entscheidern werden, dann ist die Situation völlig anders: Ich schaue mir die talkshow an, um Positionen zu dem angebotenen Thema kennen zu lernen. Ich lese Zeitungen anders. Ich nehme politische Debatte als etwas wahr, was mich in meiner Meinungsbildung unterstützt. Und dann entscheide ich.

Ich befürchte, dass derjenige, der nicht die Notwendigkeit sieht, über die Entscheidungsprozesse in unserer Demokratie des 21. Jahrhunderts zu diskutieren, statt auf den Entscheidungsprozess auf die Gefahr „schlechter“ Entscheidungen des Volkes verweisen wird.

Ich habe im zweiten Kapitel einige Beispiele dafür genannt, welche Auswirkungen Entscheidungen gehabt haben, die durch die Parlamente getroffen wurden. Gelegentlich waren die beschlossenen Gesetze ohnedies verfassungswidrig. Bislang bleiben diejenigen, die mit der Unwissenheit der Bevölkerung argumentieren, den Beweis dafür schuldig, dass durch direktdemokratische Entscheidung Unverantwortliches geschähe. Beispiele hierfür gibt es jedenfalls keine. Dem Grunde nach bin ich vom Gegenteil überzeugt: wer den Souverän nicht achtet, sondern ihn als tendenziell dumm betrachtet, sollte keine Macht haben, im Namen dieses Souveräns Entscheidungen zu treffen. Emotional macht mich solche Dämonisierung gegen das eigene Volk schlichtweg wütend.

Vermutlich werde ich, werden wir alle, Entscheidungen treffen, die wir später als falsch oder schlecht einstufen. Dies geht mir im täglich Leben nicht anders. Gut ist daran, dass ich meine Entscheidungen korrigieren kann, sobald ich den Fehler erkenne. Dies soll bei Volksabstimmungen auch möglich sein. Nach dreimaligem Versuch und Irren achtet unser Sohn übrigens jetzt eigenständig darauf, genügend Schlaf zu bekommen.

Das „Wagnis“, eine Entscheidung selbst zu treffen, steht den Potentialen meiner eigenen Verantwortung gegenüber, mir diese Entscheidung nicht von Dritten abnehmen zu lassen. Neben der Angst, ins kalte Wasser geworfen zu werden, steht nämlich die Freude am Schwimmen. Unternehmer zu sein und die damit verbundene Unabhängigkeit zu genießen ist nämlich Freiheit. Dies gilt in der Wirtschaft. Dies gilt aber gleichermaßen in der Politik.

Die Frage, ob das Volk die Kompetenz im Sinne von Können hat, eine Entscheidung zu treffen, liegt in der Hand des Souveräns selbst und nicht in der Hand derer, die das Volk (vermeintlich) vertreten. Deshalb kommt es nicht darauf an, ob uns Politiker eine Entscheidung in einer Sachfrage zutrauen oder nicht. Es kommt darauf an, ob sich das Volk eine solche Kompetenz selber zutraut oder nicht.

Die Direkte-Demokratiebewegung sollte mithin nach meiner festen Überzeugung den Inkompetenzvorwurf der Berufspolitik als unzulässig brandmarken, statt zu versuchen ihn auszuräumen. Letztlich ist dieser Vorwurf nichts anderes als Wählerbeschimpfung nach einer verlorenen Wahl. Um einen Vergleich mit dem Wirtschaftsleben zu ziehen: Stellen Sie sich vor, Sie seien Gesellschafter eines Wirtschaftsunternehmens. Würden Sie sich von Ihrem bei Ihnen angestellten Geschäftsführer sagen lassen, Sie hätten von dem ganzen Geschäft keine Ahnung und sollten sich damit begnügen, den wirtschaftlichen Profit des Unternehmens einzustreichen und ihn, den Geschäftsführer, seine Arbeit tun lassen? Wenn ich der Gesellschafter wäre, würde ich vermutlich bei einer solchen Ansage davon ausgehen, dass das Vertrauensverhältnis zwischen mir und meinem Geschäftsführer zerrüttet ist und mich alsbald von ihm trennen. Und jedenfalls wäre für mich klar, dass ich als Gesellschafter im Boot bleibe und mir im Zweifel einen neuen Geschäftsführer suche. Jedenfalls wäre es für mich völlig ausgeschlossen, dem aufmüpfigen Geschäftsführer weiterhin Handlungsfreiheit zu gewähren. Täte ich dies, müsste ich damit rechnen, dass der Geschäftsführer in Zukunft, wenngleich schleichend, nicht mehr nur meine Interessen verfolgt, sondern zunehmend auch seine eigenen.

Wenn ich noch einmal das im zweiten Teil dieses Buches zum Lobbyismus Gesagte in Erinnerung rufen darf, stellt sich mir die Frage, ob wir nicht doch bisweilen genau das tun, nämlich den Geschäftsführer tun lassen, was er will. Drängt es sich nicht auf zu prüfen, ob unser Geschäftsführer ausschließlich unsere Interessen verfolgt – oder nicht etwa doch seine oder die Interessen einer bestimmten Klientel?

Wenn wir einen Augenblick bei dem Beispiel mit dem Gesellschafter und dem Geschäftsführer verbleiben: Würden Sie es als Gesellschafter akzeptabel finden, wenn Ihr Geschäftsführer Ihnen mitteilt, dass Sie nur noch bestimmte Räumlichkeiten Ihres Unternehmens betreten dürfen? Er habe vorsichtshalber alle Schlüssel ausgetauscht. Für Sie habe er ein kleines Besucherzimmer einrichten lassen. Das müsse genügen. Würden Sie ernsthaft mit Ihrem Geschäftsführer darüber diskutieren, ob zusätzlich zum Besucherzimmer vielleicht auch noch ein Blick in die Produktionshalle gestattet sei? Wenn Ihnen Ihr Geschäftsführer dann sagt: „Nein. Das ist nicht gestattet. Sie haben nämlich keine Ahnung von der Produktion unseres Produktes!“ dann vermute ich, Sie würden die Schlüssel verlangen. Sofort. Und zwar alle Schlüssel.

Wenn dieses Beispiel aus dem Wirtschaftsleben übertragbar ist auf unsere Zivilgesellschaft, dann stellt sich mir die Frage, warum wir denn bei der Frage, welche Themen sich für eine Bürgerbeteiligung eignen und welche Themen sich angeblich nicht eignen würden, so zaghaft sind? Sollten wir nicht besser, wie der Gesellschafter unseres Beispiels, die Schlüsselgewalt über das gesamte Unternehmen verlangen?