Teil I – Parlamentarische Demokratie – Erfolgsmodell oder Auslaufmodell?

2.5. Verkomplizierung von Sachverhalten

Wir leben in einer komplizierten Welt, wer wollte das bestreiten? Die ständig sich widerstreitenden Interessen fordern permanent neue Regeln. Um einen Ausgleich der Interessen bemüht, stehen PolitikerInnen häufig zwischen Baum und Borke.

Die Verklausulierung von Sachverhalten, die juristische Sprache, der Verzicht auf Textzusammenhang: all dies führt dazu, dass sich nur noch Experten mit den konkret zur Entscheidung stehenden Sachverhalten auskennen. Immer schwieriger wird es sicherzustellen, dass ein Gesetz von heute keinem früheren Gesetz widerspricht. Manche Änderungsgesetze führen zu Veränderungen in zahlreichen bestehenden Gesetzen. Fachleute nennen dies die Prüfung der Rechtsförmlichkeit. Weil diese Materie äußerst kompliziert ist, wird bei einem Änderungsgesetz beispielsweise gerne eine Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen eingefügt. Dies ermöglicht die Verwaltung nach Beendigung eines Gesetzgebungsverfahrens einen Sachverhalt nach ihren Anforderungen nachzujustieren oder Vorschriften schneller an bereits vorhersehbare Veränderungen anzupassen. (Handbuch der Rechtsförmlichkeit, 3. Aufl., Rz. 381) Außerdem ist die Verweisung auf andere Gesetze beliebt, um Wiederholungen zu vermeiden und, noch wichtiger, unnötige Abweichungen in einzelnen Rechtsvorschriften zu vermeiden. Diese Technik beim Schaffen eines neuen Gesetzes führt dann beispielsweise zu folgendem Text, den der Deutsche Bundestag als „(Viertes) Gesetz zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze“ beschlossen hat:
„1. Artikel 1 wird wie folgt geändert:
a) Nummer 2 wird wie folgt gefasst:
,2. § 7 wird wie folgt geändert:
a) In Absatz 1a wird nach Satz 1 folgender Satz eingefügt:
„Satz 1 gilt entsprechend, wenn während einer bis zu dreimonatigen Freistellung Arbeitsentgelt aus einer Vereinbarung zur flexiblen Gestaltung der werktäglichen oder wöchentlichen Arbeitszeit oder dem Ausgleich betrieblicher Produktions- und Arbeitszeitzyklen fällig ist.“
b) Folgender Absatz 4 wird angefügt:
„(4) Beschäftigt ein Arbeitgeber einen Ausländer ohne die nach § 284 Absatz 1 des Dritten Buches erforderliche Genehmigung oder ohne die nach § 4 Absatz 3 des Aufenthaltsgesetzes erforderliche Berechtigung zur Erwerbstätigkeit, wird vermutet, dass ein Beschäftigungsverhältnis für den Zeitraum von drei Monaten bestanden hat.“‘
b) Nummer 5 wird wie folgt gefasst:
5. § 23c wird wie folgt geändert:
a) In Absatz 1 Satz 3 werden die Wörter „Arbeitgeberanteil nach § 172 Absatz 2“ durch die Wörter „Arbeitgeberzuschuss nach § 172a“ ersetzt.
b) In Absatz 2 Satz 2 werden nach dem Wort „Bescheinigung“ die Wörter „im Einzelfall“ eingefügt.“

Haben Sie verstanden, worum es bei diesem Gesetz geht? Ich nicht. Und das liegt vermutlich nicht daran, dass ich hier nur einen Ausschnitt des Änderungsgesetzes wiedergegeben habe. Nachzulesen ist das vollständige Gesetz unter BT-Drucksache 17/7991 vom 30.11.2011.

Besonders eindrucksvoll ist diese Zerstückelung von Regelungen im Arbeitsrecht. Statt ein Arbeitsgesetzbuch (wie im Einigungsvertrag 1990 beabsichtigt), haben wir über dreißig verschiedene Gesetze: neben dem BGB das AentG, das KSchG, das BetrVG, das TVG, das MitbestG und das DrittelbG, das AltTZG und das TzBfG, die GewO und das HGB, das EntgFG, das BurlG, das ArbZG, das AÜG, das MuSchG und das BEEG, das PflegeZG und das FPflZG, das NachwG, das ArbPlSchG, das BBiG, das ArbSchG, die ArbStättV und die BildScharbV, das AsiG, die BKV, das SGV IV und das SGB IX, das AGG und das ArbnErfG, das SchwarzArbG und das ArbGG, um nur die wesenlichen Gesetze und Verordnungen im Gesetzesrang zu nennen. Hierzu gibt es selbstverständlich zahlreiche Ausführungsbestimmungen, Verwaltungsverordnungen und dergleichen.

Ist dieser Kakophonie von Abkürzungslauten noch etwas hinzuzufügen?

Obwohl die meisten Menschen in Arbeitsverhältnissen stehen, ob als Arbeitgeber oder als Arbeitnehmer, und deshalb auf klar verständliche Regeln im Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber nicht verzichten können, haben wir es mit einem Dickicht an Normen zu tun, die letztlich wohl nur ein Fachanwalt für Arbeitsrecht und die Fachgerichte redlich verstehen. Für den sozialen Frieden im Betrieb wären meines Erachtens aber eindeutige und klar verständliche Regelungen von Bedeutung.

Noch schlimmer als in der Arbeitsrechtswelt ist das Tohuwabohu im Steuerrecht. Die österreichische Tageszeitung „Die Presse“ titelte einmal, es sei „ sehr einfach, die Dinge kompliziert zu machen, aber sehr schwierig, zur Einfachheit zurückzufinden.“ (Die Presse, 19.09.2010). Diese Einsicht gilt insbesondere für das Steuerrecht. Über 30.000 Paragraphen sind vom Steuerpflichtigen zu beachten.

Paul Kirchhof, Bundesverfassungsrichter a. D. und seit Schröders Bundestagstagswahlkampf zum „Professor aus Heidelberg“ geadelt, hat in einem Vortrag am 24. Mai 2012 beim Bund der Steuerzahler in Nordrhein-Westfalen gesagt: „Das Einkommen- und Körperschaftssteuerrecht, einschließlich Gewerbesteuer ist völlig durchsetzt durch Ausnahmeprivilegien und Lenkungstatbestände. Ein Großteil der Kleinreformen handelt immer davon, diese Ausnahmetatbestände zu vermehren, weil man sie als Unrecht erkennt.“ In der Folge versuche der Gesetzgeber, einen Fehler durch einen anderen Fehler zu kompensieren; damit vermehre er aber letztlich die Fehlerquellen. Derzeit (Stand Mai 2012) gebe es 534 Ausnahmetatbestände.

Das Recht muss Gleichmaß und Verhältnismäßigkeit, der Transparenz und der Verstehbarkeit in deutscher Sprache entsprechen. Wenn ein Gesetz einfache Grundtatbestände regelt, die jeder versteht, dann kann auch Steuerrecht von uns Bürgerinnen verstanden – und letztlich auch befolgt werden.

Warum haben wir ein solches vereinfachtes, die Grundsätze von Gleichmaß und Verhältnismäßigkeit, Transparenz und Verstehbarkeit in deutscher Sprache berücksichtigendes Steuerrecht nicht? Nun mag es sein, dass Kirchhof Recht hat und der Gesetzgeber dem Versuch erlegen ist, durch kleine Reförmchen das Steuerrecht zu justieren, in dem neue Ausnahmetatbestände geschaffen werden, die bestehende Ausnahmetatbestände ergänzen. Wenn ich mir aber die tatsächliche bezahlte Steuerbelastung anschaue und feststelle, dass die 10 Prozent der Meistverdienenden unserer Gesellschaft im durchschnittlichen Mittelwert lediglich 23 % Steuern zahlen (diese Zahl nannte Kirchhoff in seinem oben genannten Vortrag) dann muss ich mir zwangsläufig die Frage stellen: Cui bono? Wenn ich weiß, dass große Unternehmen, wie e.on, 10 % Steuern zahlen (auf 10 Milliarden EUR Gewinn vor Steuern in 2005) oder BMW 18 % (auf 3,29 Milliarden EUR Gewinn vor Steuern in 2005), muss ich erneut fragen: Wem ist dieses Steuerrecht zum Vorteil?

Kennen Sie sich mit Verlustvorträgen, Verlustrückträgen oder steuerlicher Organschaft aus? Wenn nicht, dann ist das traurig für Ihren Geldbeutel. Die im Buchhandel angepriesenen Bücher zur Steuererklärung mit den „1.000 Steuerspartips – Ganz legal“ mögen dem einen oder der anderen ein paar Euro Steuern sparen helfen. Aber, wie wäre es, wenn Sie Ihre Betriebsstätte im Ausland zu großen Teilen vom deutschen (und europäischen) Steuerzahler geschenkt bekämen? Statt Neid zu empfinden, sollten wir uns fragen: Warum erlaubt man Unternehmen ihre tatsächliche Steuerbelastung dadurch zu bestimmen, in dem sie „steueroptimiert“ handeln? Warum nehmen wir hin, dass eine Unternehmensleitung durch ihre unternehmerische Entscheidung die Höhe der auf das Unternehmen entfallenen Steuern maßgeblich selbst bestimmen kann? Ein Grund hierfür ist sicherlich: „Weil wir das Steuerrecht nicht verstehen!“

Deshalb müssen wir uns fragen: Wem ist die Komplexität des Steuerrechts von Vorteil? Und weiter: Ist letztlich die Komplexität des Steuerrechts gar kein Missgeschick der Politik? Ist die Komplexität der Regelungen vielleicht gar nicht die Ursache der vermeintlich fahrlässig geschaffenen „Steuerschlupflöcher“, welche die Wirtschaft und Industrie ausnutzen können, um sich einer Steuerpflicht, zumindest teilweise, zu entziehen? Ist die Komplexität des Steuerrechts letztlich nur ein Vorwand, um Ungerechtigkeit zu kaschieren? Vielleicht haben wir es mit Vorsatz zur Verkomplizierung zu tun, damit die breite Öffentlichkeit diese schwierige Materie nicht so ganz versteht und daher der soziale Frieden erhalten bleibt?

Der Bundesverfassungsrichter a. D. Kirchhoff sagte in seiner oben genannten Rede: „Wenn das (gemeint war die Ungerechtigkeit in der tatsächlichen Steuerbelastung, Anm.d.Verf.) die Menschen in der Öffentlichkeit wüssten, sie können es im Gesetz lesen aber sie können es nicht lesen, weil es keiner versteht, dann würden wir hier so friedlich nicht sitzen, nicht?“

Freilich ist es möglich, vorgeblich komplexe Sachverhalte zu regeln und dabei dennoch sicherzustellen, dass die Allgemeinheit diese Regeln als hinreichend gerecht empfinden. Dafür ist es allerdings erforderlich, sich von Einzelinteressen freizumachen und das Interesse der Allgemeinheit in den Mittelpunkt zu rücken. Dies ist bisweilen nicht der Fall. Ich hinterfrage, ob eine Verkomplizierung von Sachverhalten Regelungen Vorschub leistet, die gesamtgesellschaftlich als zunehmend ungerecht empfunden werden – und die an die Grenzen des Rechtsstaats stoßen. Einen Verstoß gegen Rechtsstaatsprinzipien halte ich im Steuerrecht deshalb für wahrscheinlich, weil der Vollzug des Steuerrechts gegen den Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung verstößt, wenn eine Besteuerung vielfach nur noch nach den ungeprüften Angaben des Steuerpflichtigen erfolgt, wie es bereits im Jahr 1999 der damalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts Papier in einem Interview im FOCUS formulierte (Deutschland: Zu kompliziert, zu ungerecht – http://www.focus.de/politik/deutschland/deutschland-zu-kompliziert-zu-ungerecht_aid_178070.html)

Nur: was lernen wir daraus? Leider ist es ja so, dass es der Natur des Menschen zu entsprechen scheint, wegzulaufen, wenn es kompliziert wird. Die Katholische Kirche hatte solange keine wirklichen Kirchenkritiker, wie sie ihre Messen auf Latein zelebrierte. Erst mit der Übersetzung der Bibel in Sprachen, die die Menschen auch verstanden, begannen die Menschen Fragen zu stellen oder eine Meinung über das Gelesene von sich zu geben.

In der Medizin gibt es eine gemeinnützige Gesellschaft, die kostenlos den Arztbericht ins Deutsche übersetzt (www.washabich.de). Für den Laien unverständliches Kauderwelsch wird in allgemein Verständliches übersetzt. Und schon kann der Laie, können Sie und ich, mitreden, wenn es um unseren eigenen Körper geht.

Deshalb die Frage: Ist es nicht an der Zeit, Gesetze so zu formulieren, dass sie jeder versteht? Ist es nicht an der Zeit, Gerechtigkeit dadurch zu üben, dass nicht nur der Gewiefte von ihnen profitiert, sondern wir alle?

Ich halte die Verkomplizierung von Sachverhalten für ein Grundübel, welches die Krise unserer Demokratie verschärft. Die Welt ist nicht kompliziert, sondern sie ist gefüllt mit komplizierten Regelungen, die es zu vereinfachen gilt.