Teil III – Das Volksparlament.eu

4. Die Volkspartei

Vermutlich wird sich zunächst nicht viel ändern. Wenn die notwendigen technischen Voraussetzungen für die Abstimmung über alle EU-Verordnungen, Bundes- und Landesgesetze geschaffen sind, werden zunächst nur einige wenige Menschen beginnen, diese neuen Möglichkeiten zu nutzen.

Es wird sicher zunächst auch „Kinderkrankheiten“ geben, sowohl was den Abstimmungsprozess als auch was die Technik, das Internetportal, die Abstimmungsplattform, die Zugangsberechtigungen und die sonstigen technischen Voraussetzungen anbelangt, um abzustimmen.

Dann muss sich ein Verhaltenskodex erst entwickeln. Wie wird was und wann abgestimmt. Es bedarf der Erarbeitung und Verabschiedung einer Geschäftsordnung. Wir dürfen den damit verbundenen Aufwand – und gegebenenfalls die damit verbundenen Frustrationen – nicht unterschätzen. Aber: Am Ende wird eine Routine stehen, die die Abstimmung für viele Menschen ermöglicht.

Es wird zunächst viele Menschen geben, welche die Sachverhalte, über die es abzustimmen gilt, für zu komplex halten, um sie zu verstehen – geschweige denn, um sich eine eigene Meinung zu bilden und diese dann in einer Abstimmung einzubringen. Mit der Möglichkeit der direkten Demokratie verantwortungsbewusst und selbstbewusst umzugehen muss Schritt für Schritt erlernt werden.

Wie die Parteien und die Abgeordneten in den repräsentativen Parlamenten mit dieser neuen Möglichkeit umgehen werden, ist mir noch nicht schlussendlich klar. Es gibt ja eine ganze Bandbreite möglicher Reaktionen:

Wenn sich Parlamentarier der Auseinandersetzung dieser verstetigten direktdemokratischen Alternative zur repräsentativen Demokratie stellen, wird es zwangsläufig zu der Frage kommen: Sind Abgeordnete Vertreter des Volkes oder sind sie Repräsentanten? Mit anderen Worten: Sind sie der Entscheidungsmehrheit des Volkes oder dem Fraktionszwang unterworfen? Wie wird sich das Gefüge zwischen Parteien und Parlamenten ändern, wenn mit einem Mal eine beträchtliche Anzahl von Menschen über genau die Gesetze abstimmen, über die Berufspolitiker (annähernd) zeitgleich zu befinden haben? Glauben Berufspolitiker dann über die bessere Sachkompetenz zu verfügen?

Es ist aber auch Nichtbeachtung vorstellbar. Wenn nur wenige Tausend Menschen abstimmen, wird es sich parteipolitisch nicht auszahlen, dieses „Phänomen“ direktdemokratischer Abstimmung von Gesetzen im Internet näher zu betrachten. Nichtbeachtung ist denn auch eine der wirklichen Gefahren für das Volksparlament.eu.

Deshalb wird sich die Frage stellen: Wird eine bereits bestehende Partei von ihrem Fraktionszwang lassen und künftig die Vorgabe an ihre Abgeordneten stellen, so abzustimmen, wie die Mehrheit im Volksparlament.eu abstimmte? Wird sie erkennen, dass nicht die inhaltliche Ausrichtung Teil politischer Auseinandersetzung ist, sondern der Prozess der politischen Entscheidungsfindung?

Wenn dies nicht absehbar ist, wird sich mittelfristig die Frage stellen: Werden die Volksparlamentarierinnen.eu eine eigene Partei gründen, die sich den Mehrheitsverhältnissen bei einer Abstimmung durch das Volksparlament.eu verpflichtet fühlt? Eine solche Partei würde ihre Programmatik strikt nach den Mehrheitsentscheidungen im Volksparlament.eu ausrichten. So wie im Volksparlament.eu abgestimmt wird, schlägt sich dies im Parteiprogramm der Volkspartei nieder. Das Wahlprogramm wird sich weniger mit einer inhaltlichen Auseinandersetzung, einem Wunschkonzert ähnlich, beschäftigen, sondern vielmehr mit konkreten Fragen, wie die politischen Entscheidungsprozesse in Europa, in Deutschland, in jedem unserer Bundesländer verändert werden müssen, um einer dauerhaften direktdemokratischen Kultur den Weg zu ebnen.

Im Umkehrschluss ist die Kandidatenauswahl auch deutlich einfacher zu gestalten, als in Parteien, wo Personen mit den abzustimmenden Inhalten in Übereinstimmung gebracht werden müssen. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass es nicht mehr ganz so wichtig ist, welcher Kandidat ein Mandat erhält, wenn sichergestellt ist, dass dieser Kandidat die inhaltliche Abstimmung so umsetzt, wie sich dies aus der Mehrheitsentscheidung des Volksparlamentes ergibt. Ähnlich den Wahlfrauen und –männern in den USA wäre dann nicht die persönliche Meinung des Einzelnen entscheidend, sondern das Vertrauen, welches die Volksparlamentarier.eu in ihren Kandidaten setzen. Analog zur Freigabe vom Fraktionszwang könnte sich ein Abgeordneter freilich entschließen, der Mehrheitsmeinung des Volksparlaments.eu nicht zu folgen. Diesem Verhalten wird niemand einen Riegel vorschieben können; der Versuch wäre auch verfassungswidrig. Der Mandatsträger müsste sein Abstimmungsverhalten dann aber der Partei gegenüber erklären. Wird sie ihn zukünftig erneut aufstellen, wenn er häufiger das Mehrheitsvotum des Volksparlaments.eu missachtet hat?

Interessant dürfte auch sein, ob die Bevölkerung einer solchen Partei ihr Vertrauen schenken würde. Es wäre ja eigentlich das Vertrauen in die eigene Entscheidung. Es wäre eine Entscheidung dafür, seine Stimme bei der Wahl nicht abzugeben (und sie dann nicht mehr zu haben), sondern die Partei zu wählen, um sein Recht auf Abstimmung zu erhalten. Ich glaube und hoffe, dass eine solche Partei eine gute Chance hat in unserer Parteienlandschaft, falls denn die Notwendigkeit für eine solche Partei gesehen wird.

In jedem Fall geht es um den Aufbau einer neuen politischen Kultur: eine politische Kultur, die den Prozess einer Entscheidungsfindung in den Vordergrund rückt und darüber streitet, wie ein Abstimmungsprozess die Einbeziehung aller Bürgerinnen und Bürger sicherstellen kann. Wenn der Prozess einer Entscheidungsfindung beanstandungsfrei gewährleistet wurde, müssen wir das Ergebnis der Entscheidung als gute Demokraten akzeptieren, auch wenn wir uns ein anderes Ergebnis gewünscht hätten. Dafür einzutreten, ist die Aufgabe einer solchen neuen Partei, falls sie erforderlich ist, um der Idee eines Volksparlaments.eu zum Durchbruch zu verhelfen.