Teil I – Parlamentarische Demokratie – Erfolgsmodell oder Auslaufmodell?

2.4. Lobbyismus

Zu den Schwächen bundesdeutscher Demokratie gehört meines Erachtens auch der moderne Lobbyismus. Zu Klarstellung: Transparente Interessensvertretung ist für eine funktionierende Politik unerlässlich. Wer Politik betreibt, muss die Menschen und Interessengruppen fragen, wo der Schuh drückt. Wer Politik betreibt, muss sich darüber umfassend informieren, welche Folgen von einem Gesetz zu erwarten sind. Sich als Politiker mit Interessensvertretern zu treffen, über Sinn und Unsinn eines Gesetzesvorhabens zu reden, Folgeabschätzungen zu betreiben ist nicht verwerflich, sondern im Gegenteil: notwendig.

Was mich am modernen Lobbyismus stört, sind drei Dinge: Erstens findet er in der Regel intransparent statt, so dass beim Betrachter der Eindruck genährt wird, hier werde „Strippenzieherei“ betrieben. Zweitens wirkt Lobbyismus nur indirekt auf Entscheidungen ein. Selten erfolgt Lobbyismus als direkte Einflussnahme auf die Politik. Sicherlich sind uns Entscheidungen auf der Sachebene, wie die Hotelbesteuerung, oder auf Personalebene, wie die Berufung des stellvertretenden Direktors des Verbandes der Privaten Krankenversicherungen (PKV) in das Grundsatzreferat des Bundesgesundheitsministeriums, bekannt. Moderner Lobbyismus erfolgt jedoch subtiler. Lobbyismus setzt beim Schaffen einer Vertrauenskultur an. Das, was das soziale und das kulturelle Leben eines Politikers (auch) mitbestimmt, ist Gegenstand modernen Lobbyismus. Sei es eine Vernissage, zu der auch der Fraktionsvorsitzende erwartet wird, oder der Sektempfang bei einer Großbank, zu der der Vorstandsvorsitzende eingeladen hat. Moderner Lobbyismus setzt ganz an den Bedürfnissen der Berufspolitik an. Es wird eine Kultur geschaffen, in der Politiker aufgenommen sind und sich angenommen fühlen. Abstimmungsprozesse werden in diesem Rahmen unterstützt, Raum für Meinungsbildung geschaffen, Hilfen angeboten.
Und drittens wirkt Lobbyismus zeitgleich auf mehreren Ebenen, zunehmend auf der Europäischen, so dass im Optimum eine Situation der Alternativlosigkeit hergestellt wird.

Um modernen Lobbyismus zu verstehen, muss man die Hierarchie der Entscheider in parlamentarischen Entscheidungsprozessen berücksichtigen. Bundeskanzler – Fraktionsvorsitzender (und parallel hierzu, falls nicht in Personalunion: Parteivorsitzender) – Ausschussvorsitzender – Koalitionsausschuss (nur wenn es im Getriebe knirscht). Als kleines Licht in einem Ausschuss wird ein „Hinterbänkler“ zunächst an den Vorbesprechungen und Beratungen seiner Partei für diesen Ausschuss teilnehmen. Der Ausschussvorsitzende bzw. der Obmann fungiert in der Regel als Berichterstatter seiner Partei zu einem bestimmten Sachverhalt. Ein guter Berichterstatter wird zunächst über Wesen, Zweck und Ziel der Gesetzesinitiative berichten. Dann wird er versuchen, die unterschiedlichen Position darzulegen, die im Haus hierzu ersichtlich sind. Schließlich wird er die Position der eigenen Partei darlegen und dabei darauf hinweisen, dass diese Position bereits mit dem Fraktionsvorsitzenden und dem Bundeskanzleramt (und gegebenenfalls ebenfalls mit dem Koalitionspartner) akkordiert ist, falls es sich um eine Regierungspartei handelt. Falls es sich um eine Oppositionspartei handelt wurde diese Position zumindest mit dem Fraktionsvorsitzenden abgestimmt. In den Besprechungen geht es dann in aller Regel um Details, nicht mehr um das generelle Ob und Wie. Die Ausschussarbeit ist dazu da, die Parteilinie zu halten. Spätestens dort ist mit der eigenen Meinung Schluss – und auch mit den Einflussmöglichkeiten des Lobbyismus. Wenn sich während der Ausschussarbeit eine Parteilinie noch mal ändert, handelt es sich in aller Regel um ein Versehen, das es bis in die Nachrichten oder Zeitungen schafft. Nur sehr selten erleben wir Lobbyismus mit dem „Vorschlaghammer“, wie beim Meldegesetz des Jahres 2012, das vom Deutschen Bundestag während eines Deutschlandspiels der Fußball-Europameisterschaft verabschiedet wurde.

Lobbyismus setzt mithin viel früher an: Lobbyismus betreibt „awareness-raising“, also Bewusstseinsbildung. Lobbyismus berät, gibt Hinweise, liefert Zahlen. Lobbyismus ist umso effektiver, je eindeutiger der Sachverhalt aufbereitet wurde. Alles Wichtige steht auf maximal drei Seiten. Problem und Lösungsvorschlag sind prägnant formuliert. Und diese Ideen müssen, dieser „spirit“ muss breit gestreut werden. Erst dann „bildet“ sich Meinung.

Lobbyismus funktioniert einem Netzwerk ähnlich, bei dem es darum geht, möglichst viele einzubinden, nicht nur den direkten Entscheidungsträger in Person eines Fraktions- oder Ausschussvorsitzenden. Solche Menschen erhalten indes eine darüber hinausgehende Fürsorge durch professionelle Lobbyisten. Ein Mittagessen hier, eine Einladung, eine Eröffnungsrede zu halten, dort.

Man hat ja eher selten Gelegenheit, das Wirken des modernen Lobbyismus unmittelbar verfolgen zu können. Denn Lobbyarbeit ist weitestgehend vertraulich. Wie weit die Lobbyismus-Kultur bereits mit dem Alltag eines deutschen Politikers verwoben ist, wird erst deutlich, wenn deutsche Politik auf internationale Wirklichkeit trifft. Ich habe fast zehn Jahre im Programm zu „Drogen und Kriminalität“ der Vereinten Nationen in Wien gearbeitet. Dort wurde die Anti-Korruptionskonvention erarbeitet, die Deutschland bislang (Stand: April 2013) nicht ratifiziert hat. Der Grund: In Deutschland ist die Bestechung und Bestechlichkeit eines Abgeordneten in der Regel nicht strafbar. Dies wurde von der deutschen Delegation auch unmissverständlich als Argument vertreten, warum entweder die Konvention eine solche Strafbarkeit nicht vorsehen dürfe oder andernfalls Deutschland die Konvention nicht ratifizieren könne. Nach meiner Erinnerung haben dann die Delegationen aus Australien und Kanada sofort nachgefragt, ob Deutschland damit geholfen sei, dass es ja eine Übergangsfrist geben solle, innerhalb der die Mitgliedstaaten ihre nationalen Gesetze anpassen, mithin Deutschland die Korruption von Politikern unter Strafe stellen könne. Nein, damit sei Deutschland nicht geholfen, antworteten die Deutschen. Leider ist es mir bei Strafe verboten, nicht protokollierte Details aus den Verhandlungen wiederzugeben. Aber vielleicht gibt es Ihnen einen Eindruck, dass mich auf einem diplomatischen Empfang der Justizminister aus Bangladesh, den ich aus anderen Projekten bereits kannte, quer durch den Raum ansprach: „Ralph, Sie sind doch auch Deutscher. Klar, Sie arbeiten bei der UNO und sind daher der internationalen Sache verpflichtet. Aber: Vielleicht darf ich Sie ja als Fachmann für Strafrecht mit besonderer Kenntnis des deutschen Strafrechts fragen: Stimmt es, was unser deutscher Kollege heute morgen gesagt hat, dass nämlich die Korruption eines Politikers nicht strafbar ist?“ Ich habe dann nach Kräften versucht, zu erläutern, wann und in welchen (engen) Grenzen Korruption eines Politikers strafbar sein könnte und wann es in aller Regel straffrei bleibt. Dann sagte der Justizminister knapp: „Tja, dann müsste man ja verrückt sein, wenn man sich so blöd verhielte, dass es strafbar wäre! Aber, sagen Sie, meine Herren, warum schauen mich eigentlich alle immer so schief an, wenn es um Korruption geht? Bangladesh steht auf einer schwarzen Korruptionsliste, Entwicklungshilfeprojekte werden nicht durchgeführt, weil Bangladesh so korrupt ist. Wissen diejenigen, die mit dem Finger auf uns zeigen, auch Deutsche, dass die Korruption eines Politikers in Bangladesh strafbar ist und in aller Regel zu dessen Amtsenthebung führt?“ Betretenes Schweigen. „Vielleicht sollte mich Difid (das ist die britische Entwicklungshilfe, Anm. d.Verf.) als Experten für ein Entwicklungshilfeprojekt in Deutschland benennen. Ich könnte die Deutschen darin beraten, wie es sich trotz Strafbarkeit von Korruption weiterhin gut entwickeln kann!“ Schallendes Gelächter im ganzen Saal. Wir schrieben das Jahr 1998.

Damals dachte ich noch, dass sich diese Peinlichkeit bald überlebt haben wird, weil die Politik selbstverständlich zur Einsicht kommen und selbstredend schwarze Schafe in der Politik eliminieren werde. Für jeden Beamten ist die Annahme von mehr als einem Kaffee verboten. Warum sollte dieses Verbot für einen Abgeordneten nicht ebenfalls gelten? Heute, viele Legislaturperioden später, in der fast alle im Bundestag vertretenen Parteien auch mal am Regierungsruder saßen, hoffe ich nicht mehr auf Einsicht. Vielmehr sehe ich ein, dass ich die Mechanismen und Wirkungsweisen des modernen Lobbyismus unterschätzt habe.

Man kann nur verstehen, warum beispielsweise der Fraktionsvorsitzende der CDU im Deutschen Bundestag die Strafbarkeit der Bestechung und Bestechlichkeit eines Abgeordneten für unmöglich hält, wenn man Korruption und modernen Lobbyismus in ein Naheverhältnis zueinander bringt.
Klar ist: Der Feldwebel liegt besser nicht im Schützengraben, dort also, wo es rummst und knallt. Wenn man strategisch denken will, braucht man räumliche Distanz und Ruhe. Kein Telefon, kein „nur ganz kurz“-Stören einer besorgten Sekretärin. Für Strategieüberlegungen braucht man Diskurs. Man muss mit anderen reden. Die Möglichkeiten eines Spitzenpolitikers, sich rücksichtslos mit anderen Menschen auszutauschen, sind indes begrenzt. Der Ehepartner ist nur bedingt geeignet, weil er die Interna nur versuchen kann zu verstehen; der Partner „lebt“ und „atmet“ die Politik nicht, er ist auf Erzählungen und Beschreibungen des anderen angewiesen. Der Staatssekretär? Sicherlich ist Loyalität ein absolutes Muss. Aber weiß ich wirklich, was er tut, wenn die Dinge auf Messers Schneide stehen? Offenheit ist gefährlich in der Politik und wird bisweilen teuer bezahlt. Parteifreunde? Nie und nimmer. Wer Parteifreunde hat, braucht keine Feinde mehr. Nun kommt der Lobbyist ins Spiel. Seine Trumpfkarte ist Verschwiegenheit, sein Faustpfand der berufliche Exodus. Er weiß, dass er beruflich tot ist, wenn auch nur ein Wort über seine Lippen kommt. Er ist politischer Profi. Ein guter Lobbyist versteht die komplexen Strukturen, ohne dass man ihm diese erklären muss. Er ist stets konstruktiv bei der Sache, weil er seine Sache im Kopf hat. Er ist der perfekte Sparringpartner. Er beharrt nicht auf seiner Wahrheit, sondern er wird versuchen, Dinge möglich zu machen. Das ist der mind-set eines Lobbyisten. Er wird in der Umsetzung eines Vorhabens kreative Vorschläge unterbreiten können. Er weiß, wer wann wieviel zu wissen braucht. Wer einem Lobbyisten bei der Arbeit zusieht, wird erstaunt sein, mit welcher Raffinesse er die Zukunft plant. Diese Art der Professionalität bringt kaum ein anderer politischer Wegbegleiter mit. Und auf diese Professionalität kann auch und gerade ein Spitzenpolitiker bauen, wenn die Dinge mal nicht so laufen, wie geplant. Dann wird mit einem breiten Instrumentarium, von Fingerspitzengefühl bis Vorschlaghammer, weiter an dem „Wie“, an der Umsetzung des Vorhabens gebastelt. Beharrlich und souverän. Und immer professionell und ohne eigene Eitelkeit.

Und das ganze wird immer in stets netter Atmosphäre geliefert. Ich weiß, ich wiederhole mich hier. Aber die Atmosphäre, in der Dinge besprochen werden, ohne Machtkeiferei, Animositäten, Aggressivität oder Angst – das ist ungemein wohltuend für einen Politikprofi.

Deshalb trifft sich ein Fraktionsvorsitzender oder ein Ausschussvorsitzender oder ein Minister oder Staatssekretär in einem netten Separee eines Clubs am Brandenburger Tor mit einem Lobbyisten zum Mittagessen.

Es wäre wohl nicht das erste mal, wenn nicht im Parlament, sondern hier in diesem Separee zwischen dem Fraktionsvorsitzenden und dem Lobbyisten eine Entscheidung mit erheblicher politischer Tragweite getroffen wird. So gestärkt geht der Fraktionsvorsitzende am frühen Nachmittag rüber ins Paul-Löbe-Haus, dem Bürokomplex der Abgeordneten, und lässt beiläufig ein paar seiner Vertrauten gegenüber fallen, dass er in dieser Sache einen ganz interessanten Gedanken hatte.

Im vorangegangen Kapitel zur Exekutivlastigkeit von Entscheidungen haben wir bereits gesehen, wie wichtig die Verwaltung beim Zustandekommen von Gesetzen ist. Deshalb ist es mindestens genauso wichtig, in den Ministerien und Verwaltungen präsent zu sein, wie in der Politik. Eine solche Präsenz kann auf sehr unterschiedlichen Ebenen und mit unterschiedlichen Methoden erfolgen. Das reicht von einfachen informatorischen Handreichungen über gemeinsame Publikationen, der Organisation von Seminaren und Workshops als Ausfluss modernen public-private partnerships bis hin zu einer stärkeren Einbindung in der Personalabteilung. Hier können von Schulungsangeboten über Austauschprogramme bis hin zur Besetzung von Praktikumsplätzen eine Bandbreite von Maßnahmen vorstellbar sein. Der hop to the top ist natürlich eine Einflussnahme in die Besetzung von Stellen mit Entscheidungsverantwortung, wie Abteilungsleiter oder Direktoren- und Ministerialratsposten. Ein nahtloser beruflicher Wechsel aus der Politik und Verwaltung in die Wirtschaft und umgekehrt ist vielfach belegt. Es steht zu vermuten, dass man sich die Chancen für einen Karriereweg in die Wirtschaft durch vorangegangenes Tun in der Politik vergrößern kann. Dieser „Drehtüreffekt“ hat sogar eine EU-weite Kampagne „Block the revolving door“ heraufbeschworen.

Gerne bedient sich die Verwaltung jedoch auch der Einsetzung von Expertengruppen. Die taz berichtete im Juli 2012 über eine Studie der Allianz für Lobbytransparenz „Alter-EU“ über den Lobbyismus in der Europäischen Union. Dieser Studie zufolge dominieren Vertreter der Wirtschaft rund zwei Drittel der 80 Expertengruppen, die die Generaldirektion der Europäischen Union „Unternehmen und Industrie“ beraten; Gewerkschaften seien nur mit einem Prozent in diesen Gremien vertreten, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) mit knapp acht Prozent.

Ich behaupte, dass sich derartige Strukturen, die die bewährten Grundsätze der Parität in Unternehmen und Industrie komplett missachten, nur deshalb in dieser Generaldirektion etablieren konnte, weil die Öffentlichkeit nicht so genau hinschaut.

Wenn Sie jetzt noch bedenken, welche faktische Macht den Verwaltungen in der Formulierung ganzer Gesetzestexte zukommt, wenn Sie ferner bedenken, wie wenig öffentliches Interesse darauf gerichtet ist, die Transparenzregeln der Verwaltungen zu verschärfen, wenn Sie ferner hören, dass sich auf den Fluren der Europäischen Kommission vermutlich mehr als 15.000 Lobbyisten gegenseitig die Klinke in die Hand geben und die Direktorate, also die einzelnen Fachresorts der Europäischen Kommission, „unterstützen“, dann ist es an der Zeit, die Dinge besser selbst in die Hand zu nehmen.

Wie Lobbyismus aus meiner Sicht wirklich funktioniert, möchte ich an einem konkreten Beispiel, nämlich der Atomenergiepolitik, darstellen.

Jahrzehntelang war alles gut. Die vier Stromkonzerne, die in Deutschland Atomkraftwerke betreiben, teilen sich den Großteil des Energiemarkts in Deutschland auf. Der Mauerfall hat keinesfalls einen weiteren Mitbewerber auf den Markt gebracht, weil das in der DDR betriebene Atomkraftwerk Rheinsberg im Juni 1990 und das Atomkraftwerk in Lubmin bei Greifswald im Juli 1990 stillgelegt und von der Energiewerke Nord GmbH auf Kosten des Steuerzahlers rückgebaut wurden. Atomstrom, mit mehr als 120 Milliarden Euro vom Steuerzahler gefördert, gewährleistet eine für die Konzerne preisgünstige Produktion von Strom, sind doch die Kosten dieser Produktion weitestgehend auf den Staat abgewälzt worden. Hohe Rückstellungen für die Atommüllentsorgung sorgen zudem dafür, dass Stromkonzerne erhebliche Summen, die für Steuern hätten gezahlt werden müssen, nunmehr in den Unternehmen veranlagt werden können und zusätzliche Zinsgewinne ermöglichen. Jeder Tag, an dem ein Atommeiler Strom produzieren kann, spült nach Auskunft der Sprecherin des Vattenfall-Konzerns eine Million Euro Gewinn in die Kassen seines Eigentümers (Süddeutsche Zeitung, „Die Gelddruckmaschinen“, 6.7.2009). Als (Mit-)Eigentümer eines solchen Stromkonzerns will man hoffen, dass sich an dieser Situation möglichst lange nichts ändert.

Die Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Energieversorgungsunternehmen vom 14. Juni 2000 stellte erstmals in Frage, ob die für die vier großen Atomenergiekonzerne in Deutschland angenehme Situation absehbar ein Ende haben würde, weil die Betriebsdauer eines Kernkraftwerks auf 32 Jahre festgesetzt und daher Restlaufzeiten und Reststrommengen berechnet und vereinbart wurden. Nach dieser Vereinbarung und des aufgrund der Vereinbarung geänderten Atomgesetzes wären die 1988 in Betrieb genommenen Atommeiler Isar (Block 2), Emsland und Neckarwestheim (Block 2) im Jahr 2020 vom Netz gegangen (falls alle Reststrommengen durch die jeweiligen Meiler plangemäß produziert und nicht auf andere Meiler übertragen worden wären).

Den Atomenergiekonzernen war klar, dass eine Regierung unter Beteiligung der SPD oder Bündnis 90/Die Grünen den „Ausstieg aus dem Atomaustieg“ nicht mittragen würde. Daher war ein Projekt, welches die friedliche Nutzung der Kernenergie über das Jahr 2020 hinaus erlauben würde, nur unter einer CDU/CSU-FDP-Regierung realisierbar. Also war es ein gewichtiges Anliegen der Atomenergiekonzerne, eine komplette Revision des Atomausstiegs, zumindest aber eine Laufzeitverlängerung während der Regierung „schwarz-gelb“ durchzusetzen. Mit der im Oktober 2010 beschlossenen durchschnittlichen Laufzeitverlängerung um 13 Jahre ist dies der Atomenergiewirtschaft auch respektabel gelungen. Dem gingen offizielle Gespräche mit den Atomenergiekonzernen im Rahmen der sogenannten Konsenzgespräche voraus. In aller Öffentlichkeit wurde der Ausstieg aus dem Ausstieg als eine „historische“ Entscheidung von der Regierungsseite gepriesen, weil nun eine „verantwortungslose“ Politik der Vorgängerregierung durch eine zukunftsweisende Politik ersetzt wurde, die die Atomenergie als „Brückentechnologie“ verantwortungsvoll verstehe und einen Ersatz erst dann verlange, wenn alternative Energietechnologien verlässlich entwickelt worden seien. Verantwortungslos sei die Politik der Vorgängerregierung deshalb gewesen, weil den Atomenergiekonzernen zwar 20 Jahre Zeit gelassen wurde, um aus der Atomenergie auszusteigen; die Vorgängerregierung habe es aber versäumt dafür zu sorgen, dass innerhalb dieses Zeitraumes alternative Energietechnologien entwickelt worden seien, die in der Lage wären, den Strombedarf, der bislang durch Atommeiler gedeckt werde, zu ersetzen. Dadurch habe man der Industrienation Deutschland einen Bärendienst erwiesen.

Dies alles ist ja genauso bekannt, wie der Umstand, dass mit der Atomkraftwerkskatatrophe von Fukushima im März 2011 alles anders kam. Nun ist der Atomausstieg wieder beschlossene Sache. Es ist alles etwas anders geregelt worden, als im Konsenz des Jahres 2000. Im Kern ist allerdings das Ende der Kernkraftnutzung auf das Jahr 2022 festgeschrieben worden. Von den ehemals siebzehn Reaktoren sind jetzt noch neun Meiler in Betrieb. Ab 2015 gehen jedes zweite Jahr weitere Reaktoren vom Netz.

Ich habe die Atomenergiepolitik hier skizzenhaft deshalb beschrieben, weil es immer leicht ist, das Wirken des Lobbyismus zu beschreiben, wenn man sich Entscheidungen der Vergangenheit anschaut. Weitaus schwieriger ist es jedoch, wenn man von heute in die Zukunft schaut und sich vorherzusagen traut, wie ein professioneller Lobbyist in der Zukunft agieren wird. Mir ist natürlich bewusst, dass eine solche Vorhersage durch viele Unwägbarkeiten schnell zur Spekulation werden kann. Ich will gleichwohl versuchen, die Interessen der Atomkonzerne darzustellen und diese Interessen in politische Argumentation, und schließlich in politisches Handeln zu übersetzen. Dies ist zweifellos ein Wagnis. Mir geht es im Folgenden darum, deutlich zu machen, wie Lobbyismus funktioniert und welches Potential Lobbyismus hat, eine Entscheidung, die aus heutiger Sicht (im Jahr 2012/2013) eindeutig entschieden zu sein scheint, zu verändern.
Ich bin deshalb auf den folgenden Seiten Lobbyist. Ich nenne mich Kurt Emsig. Ich vertrete die Interessen eines Konzerns, der Atommeiler in Deutschland betreibt.

Nach einer repräsentativen Umfrage des Verbandes der Chemischen Industrie vom September 2011 finden 80 % der Deutschen den Atomausstieg richtig. Nur 8 % halten ihn für falsch, während 12 % der Deutschen noch unentschieden sind. Die Ausgangslage ist für uns als Lobbyisten der Kernkraft mithin miserabel. Was ist zu tun?

Zunächst werden sich die Atomenergiekonzerne miteinander abstimmen. In einer unsicheren Situation, in der es um Leben oder Tod der Kernenergie in Deutschland geht, wäre es fatal, wenn die Atomenergiekonzerne nicht mit einer Sprache sprächen und stattdessen unterschiedliche Vorschläge anböten. Dies würde sofort zum Auseinanderdividieren der einzelnen Konzerne und damit zur erheblichen Schwächung in der Vertretung gemeinsamer Interessen führen. Selbstverständlich wären solche Akkordierungsgespräche top secret. Daher befinden wir uns nun „under cover“. In diesen Gesprächen geht es zunächst einmal um die fundamentalen Interessen der Atomenergiekonzerne.

Alle Atomenergiekonzerne sind Energiekonzerne, will heißen: Strom wird nicht ausschließlich durch Kernkraft, sondern auch durch Kernkraft produziert. Kernkraft macht im Energieproduktionsmix etwa 15 % der Gesamtproduktionsmenge aus. Es geht also um 15 % des Strommarktes. Wenn der schlimmste Fall („worst case“) eintritt, müssen die 15 % durch uns abgedeckt werden – und nicht von unserer Konkurrenz. Deshalb geht es beim Atomausstieg auch immer um zwei weitere, wichtige Fragen: nämlich der Liberalisierung des Strommarktes und der dezentralen Produktion von Strom. Beide Bereiche sind für uns als Energiekonzern mit erheblichen Risiken verbunden: Wenn aufgrund eines Produktionsdefizits Strom aus dem europäischen Ausland importiert werden muss, müssen wir als Stromanbieter mit Verlusten rechnen. Wenn wir es zulassen, dass mit dezentral hergestelltem Strom von Stadtwerken, Genossenschaften und Privatleuten der bislang von Atomkraftwerken hergestellte Strom ersetzt wird, haben wir ebenfalls mit Verlusten zu rechnen. Deshalb müssen wir selber zentral Strom herstellen.

Wenn wir aber jetzt sofort damit beginnen würden, Strom regenerativ herzustellen, besiegeln wir das Aus der Kernkraft in Deutschland. Wenn es unser Ziel ist, langfristig nicht nur alte Meiler betreiben, sondern neue Atomkraftwerke in Deutschland bauen zu können, dann dürfen wir jetzt auf keinen Fall in großem Stil mit dem Aufbau einer regenerativen Stromproduktion beginnen, wodurch ausreichend Strom für uns alle produziert würde. Und: Wir müssen verhindern, dass es andere tun. Also müssen wir mögliche Flächen aufkaufen, auf denen Photovoltaik oder Windenergie betrieben werden könnte. Wir müssen sicherstellen, dass große Anlagen, die durch andere betrieben werden sollen, nicht genehmigt werden und wir müssen verhindern, dass die Produktion regenerativen Stroms zu einem Geschäftsmodell werden kann, mit dem sich Geld verdienen lässt. Zudem müssen wir Patente aufkaufen: Technologien, die eine effektivere oder effizientere Energienutzung durch regenerative Energien erlauben, dürfen nicht in fremde Hände.

Zugleich muss ich, der Lobbyist Kurt Emsig, auf der EU-Ebene sicherstellen, dass die mittel- und langfristigen Energiestrategien einen Energiemix vorsehen, der den Betrieb von Kernkraftanlagen sicherstellt. Damit einhergehend sollte dafür Sorge getragen werden, dass eine durch Kernkraft hergestellte Kilowattstunde genauso gefördert wird, wie eine durch regenerative Energiequellen erzeugte. Darüber hinaus sollte die friedliche Kernenergie weiter erforscht und diese Forschung durch EU-Mittel gefördert werden, mithin EURATOM, das Rahmenprogramm der Europäischen Atomgemeinschaft für Forschungs- und Ausbildungsmaßnahmen im Nuklearbereich, gestärkt werden. Stützen können wir uns in diesem Zusammenhang auf den EURATOM-Vertrag von Lissabon, der seit 2009 auch für Deutschland verbindlich gilt. Im neuen EU-Finanzrahmen 2014-2020 müssen wir für den finanziellen Ausbau EURATOMs eintreten. Und letztlich brauchen wir eine gesicherte Förderung des Neubaus von Atomreaktoren, wenn sie bestimmte technologische Neuerungen beherzigen. Dort können wir uns auf Artikel 192 Abs. 2 (c) des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union berufen. Danach kann der Ministerrat ohne Zustimmung des Parlamentes (aber nach dessen Anhörung) Maßnahmen beschließen, welche „die Wahl eines Mitgliedstaats zwischen verschiedenen Energiequellen und die allgemeine Struktur seiner Energieversorgung erheblich berühren“. Damit haben wir der deutschen Politik den Weg geebnet, der Bevölkerung nach 2022 den Bau neuer Atomkraftwerke damit zu verkaufen, die EU habe dies so beschlossen.

Ich, der Lobbyist Kurt Emsig, werde engere Kooperationen mit Ländern vereinbaren, die der Atomkraft nicht so negativ gegenüberstehen wie Deutschland. Hierfür eignen sich derzeit Polen (die in die Atomkraft einsteigen möchten), sowie Bulgarien, Frankreich, Finnland, Großbritannien Niederlande, Rumänien, Schweden, Slowakei, Tschechische Republik und Ungarn (die den Bau neuer Atomkraftwerke planen). Im Zuge dieser Kooperationen werden wir nicht nur für eine gemeinsame Atompolitik der Europäischen Union eintreten. In den Mitgliedsländern, die eine gemeinsame Grenze mit Deutschland haben und den Bau neuer AKWs planen, werden wir Grundstücke direkt in Grenznähe zu Deutschland aufkaufen, auf denen der Bau eines Atomreaktors rechtlich nicht unmöglich ist. Ab dem Jahr 2017 werden wir konkrete atomrechtliche Anträge zum Bau eines neuen Atomreaktors in zumindest einem dieser Länder stellen. Wenn wir mit den EU-Förderprogrammen bis dahin soweit sind, dass die Produktion von Atomstrom entsprechend der CO2-Richtlinien förderungsfähig sind, werden wir in Deutschland eine neue Diskussion um die Atomkraft anstoßen. Denn eins ist klar: Deutschland wird über die EURATOM 20 % der Forschungskosten für ein Kernkraftwerk der nächsten Generation bezahlen müssen, darüber hinaus wird es über ein EU-Förderprogramm zumindest zu 20 % an den Kosten des Baus des Meilers zahlen müssen, Deutschland wird auch die Subventionen für die CO2-neutrale Produktion von Strom zahlen müssen, Deutschland wird das Risiko eines Kraftwerk-GAUs faktisch tragen müssen. Die Bürgerinnen Deutschlands werden aber nicht in den Genuss des Preisvorteils einer durch Atomkraft hergestellten Kilowattstunde kommen – im Gegenteil: wenn das Konzept aufgeht, werden die Strompreise für Privatkundinnen nicht nur den heutigen Strompreis zuzüglich Inflationsausgleich, sondern auch die gesamten Kosten des Umbaus der Energiewirtschaft einschließlich der Erneuerung des Stromnetzes enthalten, sowie die gesamten Kosten, die die Energiewirtschaft über das Energie-Einspeise-Vergütungsgesetz (EEG) an diejenigen auszahlen muss, die regenerative Energie produzieren und in das Netz einspeisen.

In einer solchen Situation werde ich, der Lobbyist Kurt Emsig, die Bürgerinnen vor die Frage stellen, ob sie gleichwohl Atomkraft nachhaltig ablehnen. Denn wenn wir ein Atomkraftwerk statt auf polnischer Seite, dies auf der deutschen Seite bauen, dann hat wenigstens die deutsche statt der polnischen Atomaufsicht die Möglichkeit, über die Sicherheit des Meilers zu wachen. Und der deutsche Verbraucher wird mit einer Senkung des Strompreises um bis zu 100 EUR im Jahr bedacht. Ich glaube, dann haben wir gute Chancen, das Rad in unserem Sinne herumzudrehen.

Dafür brauchen wir die folgenden, konkreten Maßnahmen:

Das EEG muss reformiert werden. Die Einspeisevergütung pro Kilowattstunde muss reduziert und insgesamt gedeckelt werden.

Der Netzausbau muss so gestaltet werden, dass eine dezentrale Produktion von Strom dabei nicht gefördert, sondern im Gegenteil erschwert wird.

Die Mittel- und Langfristplanung der EU, der sogenannte Strategieplan für Energietechnologien (SET-Plan) muss zwingend eine Referenz zur Zukunft der Kernenergie enthalten (Kernkraftwerke der nächsten Generation). Zusätzlich muss die EU-Kommission Förderprogramme auflegen, die Kernspaltung als Schlüsseltechnologie festlegt und fördert. Kernenergie muss als Forschungsschwerpunkt enthalten sein, um in den entsprechenden Rahmenprogrammen Forschungsprojekte fördern zu können. Darüber hinaus sollte Kernenergie Teil der Technologie-Leitlinien der EU sein bzw. bleiben.
EURATOM muss ausgebaut und der Finanzrahmen 2014-2020 ausgebaut werden.

Als Lobbyist Kurt Emsig werde ich darauf achten, dass Politiker in ihren Interviews mehr Wert auf die „Bezahlbarkeit von Energie“ legen, dass das Argument stärker gewichtet wird, dass Energie „erschwinglich“ bleiben muss. Energie muss zudem „zuverlässig“ zur Verfügung stehen. Ausfälle in der Energieversorgung müssen vermieden werden. Diese beiden Pfeiler, mithin „Erschwinglichkeit“ und „Zuverlässigkeit“ müssen neben der Energiesicherheit gleichwertige Bedeutung erhalten.

Ich, Kurt Emsig, arbeite derweil in aller Stille meine eigenen Hausaufgaben ab. Ich werde mich vielleicht mit einigen Politikern der zweiten und dritten Reihe beim Empfang der Deutschen Großbank unterhalten und vorsichtig testen, ob mein Gegenüber in 2017 oder etwas später als Meinungsmacher für die Kernkraft in Frage kommt. Ich werde dies zunächst indirekt, später dann ganz direkt ansprechen: Ob er Kernenergie in Deutschland auch in zwanzig Jahren ausschließen kann? Wenn er antwortet, man wisse ja nie was kommt, bleibt er für mich im Rennen für eine gemeinsame Zukunft. Wenn er ablehnt, werde ich, Kurt Emsig, mir eine Notiz machen. Manche Lobbyisten verteilen Schulnoten, andere Smileys. Ich mache mir im Fall einer kategorischen Ablehnungshaltung meines Gesprächspartners ein n.m.e hinter das Namenkürzel dieses Politikers. Das hieß: „Nicht mehr einladen“.

Ich, Kurt Emsig, werde daran arbeiten, die Nukleartechnologie der nächsten Generation vom Schreckgespenst der Kernschmelze, der Verstrahlung und der Todesangst zu befreien. Die Kernenergie der nächsten Generation muss als sicher, stets verfügbar, preiswert und Ökostrom gelten, weil es CO2-neutral hergestellt werden kann. Um diese Kehrtwende in den Köpfen der Menschen unterstützen zu können, ist zeitlicher Abstand zum letzten GAU und die Präsentation einer neuen, ungefährlichen Technologie zwingend erforderlich. In einer Situation, in der 80 % der Bevölkerung gegen uns eingestellt sind, müssen wir unsere Politiker schützen und ihnen raten, bloß nicht öffentlich für die Atomenergie Position zu beziehen. Deshalb ist es derzeit und in den nächsten vier, fünf Jahren (also bis Ende 2017) nicht angezeigt, das Thema Atomkraft überhaupt in der öffentlichen Debatte zu halten und damit das Feuer der Angst und des Zweifelns stets zu schüren. Vielmehr muss das Reizthema jetzt zunächst vermieden werden.

Wenn dann die Energiewende der Öffentlichkeit den letzten Nerv raubt, weil es schwerer ist, eine Stromleitung von Nord nach Süd zu bauen, als den deutschen Einigungsprozess zu stemmen, wenn der Strom gefühlt bald genauso viel kostet wie die Wohnungsmiete, dann ist die Zeit gekommen, die neueste Technologie vorzustellen, die Erfinder mit Preisen zu bedenken und ihnen zu danken, dass sie uns in dieser schweren Zeit der Energiekrise retten. Wenn es allzu schwer fällt, die öffentliche Meinung zu beeinflussen, sollte stundenweise der Strom in Stuttgart oder Düsseldorf ausfallen, weil ein energieintensiver Betrieb absprachewidrig seine Produktion kurzfristig angefahren hat; Strom aus der Steckdose ist eben nicht selbstverständlich. Das erfährt man am besten, wenn man im Dunkeln sitzt und wenn die Politik es uns als Stromproduzenten verboten hat, ausreichend Grundsicherung der Stromversorgung zu betreiben, weil 2017 mit der Abschaltung von Block B des AKWs Gundremmingen nur noch sechs Reaktoren am Netz sind. Vielleicht findet ein solcher Stromausfall auch unglücklicherweise einen Monat vor der dann anstehenden Bundestagswahl statt. Dann haben diejenigen Politiker Konjunktur, die schon immer den Atomausstieg kritisiert haben und jetzt das Heft des Handelns für den Industriestandort Deutschland in die Hand nehmen möchten.

Zugleich gilt natürlich das Sprichwort: Es ist mir egal, in welches Körbchen die Henne ihr Ei legt, wenn es nur mein Körbchen ist. Das bedeutet, wir Lobbyisten müssen uns Gedanken darüber machen, welche Entscheidungsoptionen grundsätzlich bestehen. Dann müssen wir darauf hinwirken, dass wir von der Entscheidung profitieren, egal wie sie letztlich ausgeht.

Wenn wider Erwarten am Atomausstieg festgehalten wird, müssen wir eben die Gewinner des Atomenergieausstiegs werden und uns darauf konzentrieren, dass wir allenthalben den Strom geschenkt bekommen, den ein Häuslebauer mit seiner Photovoltaikanlage produziert. Auf dem Weg hin zur Energiewende müssen wir die maroden Überlandnetze erneuert haben und die Kosten hierfür über eine Umlage vom Stromkunden bezahlt bekommen. Würden wir die notwendige Modernisierung unserer Stromtrassen nicht in den Kontext des Atomausstiegs stellen, wäre die Bereitschaft des Stromkunden kaum vorhanden, hierfür eine Umlage bezahlen zu sollen. Insoweit sind wir sicherlich Gewinner der derzeitigen gemeinsamen Anstrengungen, Deutschland für den Atomausstieg zukunftsfähig zu machen.

Es ist in diesem Zusammenhang sicherlich von Vorteil, dass der Öffentlichkeit nicht aufgefallen ist, dass die geplanten drei neu zu bauenden Stromtrassen teilweise an den Standorten (alter) Atommeiler beginnen oder enden und auf dem Ticket des Atomausstiegs konventionelle Kraftwerke miteinander verbinden. Trasse 1 (sog. Korridor A) wird vom Gaskraftwerk Emden 4 (über das Braunkohlekraftwerk Niederaußem K) auf bestehenden Mastsystemen integriert (Bundesnetzagentur, Bestätigung Netzentwicklungsplan Strom 2012, S. 119) zum AKW Philippsburg führen. Trasse 2 (sog. Korridor C) von Wilster (ein Ort, der 1,8 Kilometer vom Atomkraftwerk Brokdorf entfernt liegt) bis zum Atomkraftwerk Grafenrheinfeld führen (Quelle: Bundesnetzagentur, Netzausbau 2012, S. 12). Trasse 3 (sog. Korridor D) wird vom Braunkohlekraftwerk Schkopau bei Lauchstädt bis zu den Lechwerken in Meitingen reichen, einem Netzverteilungsunternehmen von RWE. RWE betreibt auch das nahegelegene Atomkraftwerk Gundremmingen.

Bei unserem Lobbyisten-Szenario ist es von Vorteil, dass der Netzbetreiber TransnetBW der EnBW gehört, die Betreiberin des Kernkraftwerks in Philippsburg ist: Denn hierdurch können wir dieselbe Maßnahme mal als Investition für den Atomausstieg darstellen (und auch von der Öffentlichkeit bezahlen lassen) und dann gegebenenfalls als Voraussetzung zur Stärkung des Atomstandortes Deutschland nutzen. Je nachdem, wie die Entscheidung ausfällt in 5 oder 10 Jahren. Und in jedem Fall haben wir dann mit dem Verkaufsargument des Atomausstiegs ein komplett neues Stromleitungssystem geschaffen – freilich auf Kosten des deutschen Steuerzahlers.

So oder so ähnlich könnte es aussehen im Energiedeutschland zwischen 2013 und 2022.
Wenn ich, der Lobbyist Kurt Emsig, die Zeit zwischen 2013 und 2017 nutze und erfolgreich das „revival“ der Kernenergie in Deutschland vorbereitet habe, dann ist außer öffentlich dargestellter Symbolpolitik noch nicht viel passiert. Die acht Kraftwerke, die ohnedies entweder die Restsstrommenge produziert haben, die nach dem Atomkonsenz 2000 für diese Kraftwerke festgesetzt wurden, oder die aufgrund erheblicher Mängel mittel- oder längerfristig vom Netz genommen waren, wurden mit großer Verve abgeschaltet. Wenn hingegen 2017/2018 der Neubau eines Atomkraftwerks beschlossen wird, habe ich, der Lobbyist Kurt Emsig, als Interessenvertreter der Atomkraftkonzerne gesiegt.

Für das Kräfteverhältnis zwischen Lobbyismus und Politik bedeutet dies, dass der prozessorientierte Charakter einer Entscheidung nicht unberücksichtigt bleiben darf. Eine einmal getroffene Entscheidung ist, auch unter erschwerten Umständen wie die der Energiewende, zu ändern möglich. Kluge Lobbyisten warten darauf, dass ihre Zeit gekommen ist. Bis dahin arbeiten sie daran, dass bei einer Entscheidung möglichst „Alternativlosigkeit“ hergestellt wird, mithin alle anderen Optionen sich als deutlich nachteiliger darstellen, als die von uns gewünschte Entscheidung.

Am Ende ist unser Interesse als Stromkonzern gewahrt. Als Lobbyist Kurt Emsig habe ich die Interessen des Stromkonzerns zu vertreten, nicht aber die der Bürgerinnen und Bürger. So funktioniert Lobbyismus.

Ein so verstandener Lobbyismus ist imstande, unsere Demokratie zu zersetzen. Denn in der öffentlichen Wahrnahme geht es nicht mehr um das Gemeinwohl, sondern um das Bedienen von Interessen derer, die sich durchzusetzen vermögen. Es geht nicht mehr um die „res publica“, sondern um das in Anlehnung an die Werbung der Deutschen Post formulierte Credo: „Unterm Strich – zähl ich.“ Deshalb möchte ich jetzt wieder aus meiner erfundenen Rolle eines Lobbyisten aussteigen und Kurt Emsig in den Ruhestand schicken.

Interessen- oder Klientelpolitik macht Politik bei den einen zum permanenten Aufreger, bei den anderen führt dies allerdings dazu, sich von Politik, als ein als schmutzig empfundenes Geschäft, möglichst weit fern zu halten.

Mit meinem Freund Frank, einem Umweltökonomen, habe ich gewettet, dass wir noch (oder wieder) Atomkraftwerke am Netz haben werden, wenn wir 2031 pensioniert werden. Er hält dagegen.