Teil I – Parlamentarische Demokratie – Erfolgsmodell oder Auslaufmodell?

2.6. Mitwirkung an der politischen Willensbildung: Politische Parteien

„Erst das Land, dann die Partei, und dann ich selbst“, sagte Annette Schavan, als sie im Februar 2013 als Bundesbildungsministerin wegen ihrer Plagiatsaffäre zurücktrat.

Wenn wir uns allerdings einmal anschauen, wie „Politikerkarrieren“ entstehen, dann ist es bisweilen andersherum: Zuerst komme ich selbst. Ich muss meine Partei für mich gewinnen, um ein Amt oder ein Mandat zu erhalten. Dann muss ich dafür sorgen, dass meine Partei stetig wachsenden Einfluss erfährt und ich muss gleichzeitig sicherstellen, dass die Entscheidungsträger in meiner Partei merken, dass aufgrund meines Einsatzes die Partei von mir profitiert. Erst danach kann ich etwas für das Land tun.

Denn: Berufspolitiker wird man wohl nur dann, wenn man in einer Partei für sich und seine Position Mehrheiten organisieren kann. Man wird wohl nur dann einen aussichtsreichen Listenplatz erreichen, wenn man Parteitagsdelegierte für sich hat einnehmen können. Bisweilen geht das nicht lautlos. Parteitagsberichte über „Hauen und Stechen“ sind nicht selten, sind doch Mandate für Landtage, den Deutschen Bundestag oder für das Europaparlament überaus begehrt. Wenn aber über von Neid und Missgunst getragenem Zank zwischen Parteitagsdelegierten in den Nachrichten der Republik berichtet wird, ist dies ein Super-GAU für eine Partei, die sich auf einen Wahlkampf vorbereitet. Dies erfahren alle Parteien gleichermaßen. Die im Vergleich zu den anderen Parteien junge Piraten-Partei machte erstmals 2012 diese Erfahrung: nach Berichten über gegenseitige Beschimpfungen der Parteimitglieder sank die Zustimmung zu dieser Partei deutlich und unmittelbar.

Deshalb hat sich, in unterschiedlicher Prägung quer durch alle Parteien, eine „Parteitagsregie“ etabliert, die nach Kräften versucht, einen „erfolgreichen“ Parteitag zu veranstalten. An dessen Ende stehen strahlende Sieger – gewähltes Personal für Parteiämter oder Kandidaten für Mandate. Und zum Schluss regnet es wahlweise Konfetti, werden Riesenluftballons von den Delegierten in die Luft gestupst oder die Kandidatinnen werfen ihre Blumensträuße in die Menge und verteilen danach Handküsse zum Dank an ihrer Unterstützer.

Darüber hinaus haben die Parteien – wiederum der Kultur einer Partei entsprechend angepasste – Selektionsverfahren entwickelt. In unserer Mediengesellschaft hat sich die Notwendigkeit gezeigt, „Anchormen“ oder „Anchorwomen“ zu haben, also Moderatoren, die in der medialen Öffentlichkeit bekannt sind und die bei uns Wählern Vertrauen entwickeln können. Für jede der im Bundestag vertretenen Parteien fallen uns jeweils ein bis drei Personen ein, die diese Partei repräsentieren. Diese Personen müssen zu jedem Zeitpunkt medial professionell auftreten: sie dürfen keine Schwäche zeigen, sich nicht in unbemerkten Momenten in den Zähnen pulen oder ein unbedachtes Wort äußern.

Wahlkämpfe sind deshalb zunehmend personalisiert worden. Sicherlich kann man im Umgang mit den Medien viel lernen: 30-Sekunden-Statements beispielsweise. Wer aber als greenhorn sein erstes Interview gibt ohne hierfür professionell geschult zu sein, wird auf die Nase fallen – und mit ihm die ganze Partei. Vielleicht erinnern Sie sich an die ehemalige Landrätin Gabriele Pauli, die 2006/2007 zum Sturz des damaligen Ministerpräsidenten Stoiber beitrug. Aus der Posse mit Frau Pauli, die sich als „Zuchtmeisterin im Latex-Look“ (Focus März 2007) hat die CSU, wie auch die anderen Bundesparteien längst gelernt.

Parteivorstände tun deshalb im Vorfeld eines Parteitages gut daran, Kandidaturen mit Interesse zu verfolgen. Mitunter ist auch schon von stillschweigenden Vereinbarungen zwischen den Delegationsmitgliedern einzelner Bundesländer berichtet worden, bestimmte Kandidaten „durchsetzen“, andere Kandidaten jedoch „verhindern“ zu wollen. Viele Delegierte lassen sich von derlei „Überlegungen“ im Vorfeld einer Wahl durchaus leiten. Wenn man Begünstigter eines solchen Selektionsverfahrens ist, schafft dies vertrauensvolle Abhängigkeit zu denjenigen, die die Strippen im Hintergrund gezogen haben. Und dieses Verfahren schafft win-win-Situationen für alle am Politgeschäft Beteiligten: Loyalität dem oder der Bundesvorsitzenden gegenüber, Macht und Ansehen dem Gewählten gegenüber, weil er (oder sie) das Vertrauen des Parteivorsitzenden genießt. Und die Parteibasis weiß, dass die Partei grundsätzlich auf der Siegerstraße ist, wenn ein Parteitag „glatt“ läuft und sich das gewählte Personal miteinander gut versteht.

Die sich aus dieser Struktur heraus zwingend ergebende Hierarchie verfestigt sich meiner Einschätzung nach in allen auf der Bundesebene agierenden politischen Parteien. Auch die Bündnis 90/Die Grünen oder Die LINKE, also Parteien, die satzungsgemäß Entscheidungen vornehmlich von unten nach oben organisieren, folgen zunehmend den Wünschen und Positionen des jeweiligen Parteivorstandes.

Es ist wohl nicht verwunderlich, dass Parteien Einfluss auf die Politik zu nehmen gedenken, wenn denn die Mandatsträger nach erfolgreicher Wahl ihre Funktionen in den Parlamenten übernehmen. Zwischen Wahlversprechen der Parteien einerseits und den realpolitischen Zwängen, namentlich denen in einer Koalitionsregierung, andererseits liegen bisweilen Welten.

Anfang der 1980er Jahre war es Helmut Schmidt, der von seiner Partei Loyalität einforderte und mit dem Nato-Doppelbeschluss seine Partei vor eine Zerreißprobe stellte. 2004 war es Gerhard Schröder, der eben diese Loyalität von seiner Partei beanspruchte, nachdem er seine Agenda 2010 zur politischen Priorität seines Regierens machte und damit die Gründung einer neuen Partei, der Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG) beflügelte, die sich später mit der PDS zur LINKEN zusammenschloss und viele aus der SPD ausgetretenen oder von ihr enttäuschten GenossInnen aufnahm. In 2012 ist es Peer Steinbrück, der „Beinfreiheit“ als Kanzlerkandidat von seiner Partei einfordert: Es gab und gibt ein Spannungsfeld zwischen einer politischen Partei und regierender Politik.

Altkanzler Kohl versuchte das Spannungsfeld zwischen seiner CDU-Partei und seiner Fraktionsarbeit in den 16 Jahren seiner Amtszeit (1982-1998) bisweilen dadurch zu entminen, indem man den Parteivorsitz und den Fraktionsvorsitz in seiner Person vereinte. Allerdings blieb das Spannungsfeld zwischen Amt und Mandat erhalten: unvergessen bleibt sein erbitterter Streit mit Heiner Geißler, dem Generalsekretär der CDU jener Tage.

Will sagen: die Partei sitzt mit am Kabinettstisch. Sie sitzt mit in der Fraktion, sie ist in den Ausschüssen und Fachgremien mit von der Partie. Wer Bedacht auf seine eigene Karriere legt, legt sich nicht mit seiner Partei, namentlich nicht mit dessen Vorsitzenden an. In 2012 musste dies Entwicklungsminister Niebel lernen: als er seinem Parteivorsitzenden Rößler den Rücktritt nahe legte, flog Niebel kurzerhand aus dem Parteivorstand der FDP. Zuvor traf ähnliches Schicksal bereits unzählige andere Berufspolitiker.

Wer, wie ich, einmal in einer Partei an Sitzungen des Ortsverbandes, des Kreisvorstandes oder des Landesvorstandes teilgenommen hat, wird verwundert darüber sein, wie wenig inhaltlich diskutiert wird im Verhältnis zu Berichten von Veranstaltungen, Vorbereitungen technischer Art für anstehende Aktionen und Informationen über die Kassenlage. Da hätte ich mir deutlich mehr politische Diskussionen und das Erarbeiten einer politischen Position dieser Partei gewünscht.

Welche Qualitäten braucht also ein Parteimitglied, der politisch aktiv sein möchte, der vielleicht irgendwann ein Amt der Partei oder ein Mandat übernehmen möchte? Er muss um sich werben, muss in der Lage sein, andere Menschen einzubinden, er muss sein soziales Netzwerk auf- und ausbauen können. Er muss auf sich aufmerksam machen. Dabei muss er darauf achten, in „seiner Liga“ zu spielen: wenn jemand in der Kommunalpolitik zum Ärgernis des Landesvorsitzenden auf Landesebene von sich Reden macht, ist die politische Zukunft dieses Kommunalpolitikers beendet. Im Gegenzug kann derjenige Karriere machen, der von „seinem“ Wahlkreis gestützt auf Landes- oder Bundesebene einen positiven Eindruck hinterlässt. Solches macht man zumeist nicht als Quergeist oder Bedenkenträger. Solches macht man auch nicht, wenn man sich zu sehr auf die politischen Inhalte fixiert. Man muss die Entscheidungsträger in seiner Partei immer fest im Blick haben. Und die haben ihre Konkurrenz fest im Blick: Ob Kohl, Schröder oder Merkel: sie alle waren oder sind dafür bekannt, ihre Konkurrenz weggebissen zu haben. Mit anderen Worten bedarf es ganz anderer Qualitäten, als nur „gute“ Politik zu gestalten: Sitzfleisch ist nicht zu verachten und Spitzfindigkeiten gegen seine direkten Konkurrenten.
Nur: nutzen diese politischen Talente Ihnen und mir?
Mir kommt es einzig und allein auf die politischen Entscheidungen an. Wegen mir mag die Kanzlerin jedes Jahr dasselbe Abendkleid zum Auftakt der Wagner-Festspiele in Bayreuth anziehen.

Die in alle politischen Entscheidungsprozesse eingebundenen Parteien, die Verwobenheit persönlicher Berufskarrieren mit politischen Parteien und die sich aus dieser Parteienkultur heraus sich qualifizierenden Strippenzieher vergraulen mich als politisch interessierten Menschen. Wenn es anderen Menschen auch so geht wie mir, führt dies dazu, dass Parteien in ihrer gegenwärtigen Struktur und Arbeitsweise zu der tiefen Krise unserer Demokratie beitragen.
Mir kommt es nicht darauf an, ob ein Politiker besonders geschickt seine Strippen ziehen kann. Ich will weniger Inszenierung und mehr Kompetenz in der Politik.