1 Das parlamentarische Demokratiemodell – Ein Erfolgsmodell der Westlichen Welt

1. Das parlamentarische Demokratiemodell – Ein Erfolgsmodell der Westlichen Welt

Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratisches Erfolgsmodell. Wer wollte dies ernsthaft bestreiten? Nach dem zweiten Weltkrieg, nach militärischer Niederlage, nach Holocaust und Totalitarismus, ist ein zartes Pflänzchen der Demokratie gesetzt worden, welches heute ein robuster Baum geworden ist: eine „streitbare, wehrhafte“ Demokratie, ein sozialer Rechtsstaat.

Ich beginne dieses Kapitel und damit dieses Buch mit diesem Pathos, weil mir dieser Kern festzuhalten wichtig ist: Im Vergleich mit anderen Staaten dieser Welt, auch mit europäischen Staaten, ja selbst mit Staaten innerhalb der Europäischen Union, kann sich das gelebte Demokratiemodell der Bundesrepublik Deutschland sehen lassen.

Die föderale Verfasstheit unseres Staates muss manch einer Kritik ob der schwerfälligen Abstimmungsprozesse, dem Bürokratieaufwand als Folge und dem sich aus diesen Prozessen heraus ergebenden Möglichkeiten für Bedenkenträger standhalten. Und dennoch: kaum einem anderen Staat der Welt gelingt es so wie der Bundesrepublik Deutschland, einen Ausgleich der Interessen innerhalb eines Volkes mit immerhin rund 82 Millionen Einwohnern so reibungslos – und in seinen Prinzipien der Entscheidungsfindung so widerspruchslos – vorzunehmen.

Dass die Bundesrepublik sich so gedeihlich entwickeln konnte, war schon in den „Genen“ dieses zarten Pflänzchens angelegt: Die rund achtmonatige Arbeit des Parlamentarischen Rates, innerhalb derer das Grundgesetz entstand, ist auch heute noch Grundlage für zum Teil hoch komplexe Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Auslegung des Grundgesetzes; was die vier Mütter und 73 Väter des Grundgesetzes erarbeitet und verabschiedet haben, hat auch im wiedervereinigten Deutschland, hat auch nach mehr als 60 Jahren besondere politische Geltung.

Von besonderer Bedeutung sind die Artikel 1 und 20 des Grundgesetzes, nämlich die Garantie der Menschenwürde und der mit ihr verbundenen Grundrechte des Einzelnen als Abwehrrechte gegenüber dem Staat und die Garantie der fünf verfassungsrechtlichen Grundprinzipien: Republik, Demokratie, Sozialstaat, Bundesstaat und Rechtsstaat. Diese beiden Artikel, also die Garantie der Menschenwürde und die genannten verfassungsrechtlichen Grundprinzipien sind unabänderlich und gelten ewig (Artikel 79 Abs. 3 GG). Artikel 20 Absatz 2 besagt, dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht. „Sie wird vom Volke durch Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“

Die Frage, ob die Bundesrepublik unwiderruflich eine parlamentarische Demokratie sein soll, war im Parlamentarischen Rat durchaus umstritten. Letztlich hat man sich dort aber dafür entschieden, die Option direkter Demokratie offen zu halten. In einer denkwürdigen Abstimmung im Parlamentarischen Rat setzte sich Carlo Schmid (SPD) mit dem Satz “Wir wollen kein Monopol für die repräsentative Demokratie” gegen Heinrich von Brentano (CDU) durch. Brentano beantragte die Streichung der Worte „und Abstimmungen“ – und erlitt damit am 6. Mai 1949 eine Abstimmungsniederlage.

Nun wird in der verfassungsrechtlichen Diskussion häufig vertreten, dass Abstimmungen auf Bundesebene ausschließlich im Rahmen der Neugliederung des Bundesgebietes geregelt seien und eine Volksabstimmung daher auch nur in diesem Fall zulässig sei. Diese Auffassung berücksichtigt jedoch nicht, dass aufgrund der Ewigkeitsgarantie der genannten Grundprinzipien eine Normenhierarchie besteht. Das in Artikel 20 Absatz 2 garantierte Abstimmungsrecht des Volkes geht über die Konkretisierung einer Volksabstimmung bei Neugliederung des Bundesgebietes hinaus. Während mithin bei einer Neugliederung des Bundesgebietes eine Volksabstimmung zwingend erfolgen muss, können Volksabstimmungen für beliebige anderen Fragen durchgeführt werden. Dieses Recht kann dem Volk keiner nehmen.

Freilich muss man dieses Recht des Volkes erst erstreiten. Wir mögen uns erinnern: selbst bei der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten wurde durch die sogenannte „Beitrittslösung“ ein Volksentscheid umgangen. Wann, wenn nicht am 3. Oktober 1990 hätte das Volk in freier Selbstbestimmung über das wiedervereinigte Deutschland entscheiden sollen? Der Einigungsvertrag hielt in seinem Artikel 5 jedenfalls die Möglichkeit eines abschließenden Volksentscheids ausdrücklich offen und empfahl den gesetzgebenden Körperschaften, hierüber innerhalb von zwei Jahren zu befinden. Selbst wenn man sich parlamentarisch nicht darauf einigen konnte, eine Verfassung für die Bundesrepublik Deutschland zu erarbeiten, ist und bleibt der Umstand, keinen Volksentscheid über die Vereinigung beider deutscher Staaten herbeigeführt zu haben, ein schweres verfassungsrechtliches Versäumnis, vor dem der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts Ernst Benda bereits im September 1990 in einem Artikel der Wochenzeitschrift Die ZEIT gewarnt hat (Die ZEIT, Ausgabe 38/1990).

Hans-Ulrich Jörges formulierte es in einem Zwischenruf im Wochenmagazin Stern im Juli 2009 so: „In weihevollen Feierstunden wurde jüngst der 60. Jahrestag des Grundgesetzes bejubelt. Eigentlich hätte der 20. Jahrestag der gesamtdeutschen Verfassung gefeiert werden müssen. Denn in Artikel 146 des Grundgesetzes war – und ist! – vorgeschrieben, dass dieses Provisorium nach Wiederherstellung der Einheit durch eine per Volksabstimmung gebilligte Verfassung ersetzt werden muss. Die Verweigerung ist glatter Verfassungsbruch. (…) Die Zeit ist reif für eine durchgreifende Demokratisierung. Träumen wir mal. Die Parteien öffnen sich Urwahlen ihres Spitzenpersonals und aller ihrer Kandidaten. Horst Köhler beruft eine verfassungsgebende Versammlung ein, um zu besprechen, was am Grundgesetz zu ändern wäre: Volksentscheide, Direktwahl des Bundespräsidenten, Wahlrechtsreform mit Zugriff der Bürger auf die Rangfolge der Kandidaten auf Parteilisten. Und anderes, Länderfusionen zum Beispiel. Am Ende: Volksabstimmung über die neue Verfassung. Das wird wohl ein Traum bleiben. Eines aber muss durchgekämpft werden: die Rückgabe der Herrschaft ans Volk.“ (Stern Ausgabe 31/2009).

Wir, das Volk, könnten nun „den Politikern“ schmollend vorwerfen, sie hätten uns betrogen um den Volksentscheid zur Vereinigung Deutschlands oder um den Volksentscheid über eine neue Verfassung. Wir können aber auch beginnen, „diesen Traum“, wie ihn Jörges beschreibt, wahr werden zu lassen, in dem wir einfach beginnen abzustimmen.

In der Vergangenheit wurde von vielen Vertreterinnen der direktdemokratischen Bewegungen ein Bundesabstimmungsgesetz gefordert, das die Voraussetzungen für und die Durchführung von Volksbefragungen, Volksbegehren und Volksentscheide regeln solle. Ich halte ein solches Bundesabstimmungsgesetz für verzichtbar. Denn ein solches Gesetz würde weitere Hürden aufbauen, das Volk in Sachfragen abstimmen zu lassen, während es im Ergebnis nur dazu führt, dass sich die Parlamente allenthalben erneut mit einem Gesetzesvorhaben beschäftigen müssen. Anstatt formale Bürgerbeteiligungsverfahren einzufordern und dann aufgrund eines formalisierten Volksentscheid-Verfahrens ein Parlament zu zwingen, über ein Gesetzesvorhaben erneut zu beraten, könnte das Volk in der Sache abstimmen und das Parlament über das Ergebnis dieser Abstimmung unterrichten. Dies ist schon alleine deshalb sinnvoll, gerade weil eine Regelung über das Verfahren einer Bürgerbeteiligung fehlt.

Eine unabhängig von einem staatlich organisierten Volksentscheid durchgeführte Volksabstimmung wird politisch sicherlich die gleiche oder eine ähnliche Wirkung entfalten, wenn zwei Voraussetzungen gegeben sind: zum einen müssen genügend Menschen an einer solchen Abstimmung teilnehmen, zum zweiten müssen die Menschen klarmachen, dass sie ihre Wahlentscheidung bei der nächsten Bundestagswahl davon abhängig machen werden, ob die politische Partei dem Mehrheitswillen der Abstimmung gefolgt ist oder nicht. Ich habe mich jedenfalls entschieden, dass ich dem Prozess der Abstimmung durch das Volk mehr Gewicht einräumen werde, als dem Ergebnis. Mithin werde ich eine Partei wählen, die dem Mehrheitswillen der Abstimmung folgt, selbst wenn ich inhaltlich gegenteiliger Meinung gewesen sein sollte. Sollte sich abzeichnen, dass keine der im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien das Abstimmungsergebnis ernst nimmt, werden wir eine Partei gründen müssen, die sich dem Respekt vor dem Abstimmungsergebnis verpflichtet fühlt und ihr eigenes Abstimmungsverhalten im Deutschen Bundestag hieran bindet, statt an einen Fraktionszwang sonstiger Natur.