In Kapitel 1.2 habe ich, in grenzwertiger Kürze, die Gewaltenteilung beschrieben, die unsere Demokratie kennzeichnet. Wichtig dabei ist die Feststellung, dass alle drei Säulen für sich genommen gleichbedeutend sind. Gesetze werden durch das Parlament erlassen, sie werden von der Exekutive umgesetzt; die Rechtsprechende Gewalt (die Gerichte) überprüft die (Verfassungs-)rechtmäßigkeit der Gesetze und deren Vollzug durch die Exekutive. So die Theorie.
Wenn die Exekutive, also die ausführende Gewalt, faktisch Gesetze machen würde, wäre die Balance der Gewalten gefährdet. Eine zentrale Errungenschaft parlamentarischer Demokratien ist es gegenüber anderen Staatssystemen, dass gewählte Volksvertreter Gesetze verabschieden und die damit verbundene Verantwortung übernehmen – und sie eben gerade nicht delegieren. Wäre es uns allen genug an Demokratie, wenn wir in einer vier Jahre währenden Monarchie lebten? Ich meine nicht die Monarchien, wie wir sie in Großbritannien, Norwegen, Schweden oder den Niederlanden finden, wo der Monarch als Staatsoberhaupt lediglich Repräsentationsfunktionen des Staates wahrnimmt. Ich meine eine Monarchie, in dem der König tatsächlich alles entscheidet. Ich stelle diese etwas provokante Frage deshalb, weil das monarchische Prinzip das Gegenmodell zur Volkssouveränität ist, welches den demokratisch verfassten Staaten als Grundlage dient.
Demokratietheoretisch finden solche Delegationen der vom Volk ausgehenden Staatsgewalt durch „Repräsentanz“ statt. Faktisch jedoch finden die Gesetzgebungsprozesse weitestgehend in der Verwaltung, nicht im Parlament, statt.
Die Ministerien erarbeiten Gesetzesvorlagen, nachdem eine Entscheidung im Kabinett getroffen wurde. Dabei sprechen sie sich mit sonstigen beteiligten Ministerien ab. Damit hat die Exekutive (die Ministerien) bereits einen entscheidenden Einfluss auf die Ausgestaltung aller Einzelheiten eines Gesetzes. Nach der ersten Lesung im Bundestag wird das Gesetz in aller Regel an einen Ausschuss überwiesen, der nun die inhaltliche Arbeit aufnimmt. Entsprechend des Beratungsprozesses wird das federführende Ministerium in aller Regel gebeten, Einzelvorschläge zu unterbreiten, um den Diskussionsstand im Ausschuss abzubilden. Auch hier hat das Ministerium erhebliche Freiheit in der Formulierung der Texte und der Beratung der Ausschussmitglieder, wenn und soweit nachträgliche Änderungen eingebaut werden müssen. Da der Ausschuss in seiner Abstimmungsmehrheit die Mehrheitsverhältnisse des Parlamentes widerspiegelt und zugleich das Ministerium von einem Mitglied der die Regierung tragenden Parteien geführt wird, wird der Ausschuss im Kern die Vorlagen des Ministeriums verwenden. Niedergebrannt wird kaum je eine Gesetzesvorlage.
Sie sehen: das Ministerium, nicht das Parlament, stellt die grundsätzlichen Weichen, in welche Richtung ein Gesetz geschrieben ist. Nun werden einige neudeutsch fragen: so what? Das gab es doch schon immer seit Bestehen der Bundesrepublik. Außerdem ist, so sagen Befürworter dieses Systems, die enge Absprache zwischen Ministerium und Parlament, namentlich ihrer Ausschüsse, vorteilhaft und nicht problematisch. Letztlich sei dies nicht Ausdruck einer Verschiebung der Macht von der gesetzgebenden Gewalt auf die Verwaltung, sondern Ausdruck der Auseinandersetzung zwischen Regierungsmehrheit des Parlamentes und –minderheit. Eine engere Verzahnung zwischen beiden Gewalten führe insoweit nur zur Professionalisierung und Qualitätssteigerung der Gesetze in Zeiten stetig steigender Komplexität der zu regelnden Materie.
Dem würde ich zustimmen, wenn es nicht zwei gegenläufige Entwicklungen gäbe, die mich umtreiben: Zum einen wird die Regelungskompetenz des Parlamentes zunehmend auf die Exekutive dadurch verlagert, dass die Einzelheiten im Rahmen von Verwaltungsvorschriften geregelt werden. Dieser Gesetzesvorbehalt führt zu einer faktischen Verlagerung der Entscheidungsträgerschaft und zu einem Aushöhlen der sogenannten Wesentlichkeitstheorie, die besagt, dass alles Wesentliche im Gesetz geregelt sein muss.
Zum anderen gibt es aufgrund zunehmender Globalisierung eine Verschiebung der Gesetzgebung vom nationalen (deutschen) Parlament auf supranationale Institutionen, im besonderen auf die Europäische Union.
Dem Demokratiedefizit wird denn auch häufig mit der Forderung einer „good governance“ begegnet. Diese Forderung ist in den vergangenen Jahrzehnten von einem Schlagwort zu einem profunden Konzept erstarkt. Im Kern geht es „good governance“ weniger um den unter Wahrung der Gewaltenteilung stattfindenden Prozess einer Entscheidungsfindung, als vielmehr um „gute“ Entscheidungen, die dem vermeintlichen Gemeinwohl dienen. Dieser Ausrichtung einer Entscheidung auf das Gemeinwohl werden begleitend Mindestgrundsätze hinsichtlich Transparenz der Entscheidung, Information und Beteiligung an die Seite gestellt. Etwas überspitzt könnte man formulieren, dass wenn der Parlamentarismus, wenn die Gewaltenteilung schon geopfert werden muss, dann soll es wenigstens eine „gute Führung“ sein, die die Entscheidungen trifft.
Ich bin der Auffassung, dass das Konzept der „good governance“ gute Ansätze enthält, wenn und soweit dieses Konzept auf die Exekutive beschränkt bleibt. Man muss jedoch bedenken: Die Demokratie ist nur so gut, wie das schwächstes Glied einer Kette, die aus den drei Gewalten besteht. Wenn es eine „gleichgeschaltete“ Justiz gäbe, wäre die Demokratie im wahrsten Sinne „außer Kontrolle“. Wenn die Exekutive schwach wäre, wäre der Staat handlungsunfähig. Wenn das Parlament schwach ist, ist der Souverän, das Volk, entmachtet.
Das Bundesverfassungsgericht hält die Abtretung staatlicher Souveränität auf der Ebene der Europäischen Union für gerade noch zulässig. Das ist ok. Aber geben Sie sich mit einem „ausreichend“ zufrieden, wenn ein „befriedigend“ oder „gut“ erreichbar ist?
Lassen Sie uns deshalb einen Augenblick darauf verwenden uns anzuschauen, was das denn ist, die Europäische Union.