Teil II – Demokratie leben

4. Direkte Demokratie üben

Durch die Entwicklung der technischen Möglichkeiten einer weltweiten Datenvernetzung und dem Entstehen einer web-basierten Kommunikation wurde das Entstehen der Liquid Democracy begünstigt. Kommunikative Kompetenzen haben sich verändert. Nahezu zeitgleich mit Menschen verschiedener Netzwerke ortsungebunden zu kommunizieren ist heute für einen Dreizehnjährigen viel selbstverständlicher als für mich.

Diese sozial tiefgreifende Veränderung gilt es nicht nur zu beschreiben; sie will auch gelebt werden. Das Erstarken der Piratenpartei im Jahr 2011, die nicht nur die Freiheit des Netzes und die Freiheit im Netz propagiert, sondern zugleich auch für die selbstverständliche Vernetzung des Lebensalltags eintritt, ist Ausdruck der Sehnsucht, diese Freiheit in die gesellschaftliche Wirklichkeit zu tragen und sie als Grundlage des Politischen anzuerkennen.

In der Folge dieser technischen und gesellschaftlichen Neuerungen gibt es, namentlich auf kommunaler Ebene, Pilotprojekte erstarkender Bürgerbeteiligung. Ob es der Bello-Dialog ist, der in Berlin über Hundehaufen und Maulkörbe für Hunde geführt wurde, oder die Geschwindigkeitsbegrenzung auf 40 km/h im Innenstadtbereich: Kommunen üben sich darin, Bürgerinnen stärker an politischen Debatten zu beteiligen. Auch auf Bundesebene hat es einen Pilotversuch gegeben: Bundeskanzlerin Merkel lud dazu ein, einen „Dialog über Deutschland“ zu führen. Rund 11.600 Vorschläge gingen ein zu den Themenbereichen:
• Wie wollen wir zusammenleben?
• Wovon wollen wir leben? und
• Wie wollen wir lernen?
Zum Zukunftsdialog heißt es auf der homepage der Bundesregierung: „Mit dem Zukunftsdialog hat die Bundeskanzlerin eine neue Art von Beteiligung geschaffen, wie sie in Deutschland bislang noch nicht stattgefunden hat. Es geht um eine neue Kultur des Zuhörens und eine neue Form des Dialogs. Der Zukunftsdialog ist ein Experiment, das stark auf den Prozess des gemeinsamen Arbeitens und Diskutierens setzt, Fehler bewusst zulässt und vor allem eines im Blick hat: das Hinzulernen. Konsenspapiere und klassische Kommissionsberichte sind nicht vorgesehen.“

Allen Projekten solcher Bürgerbeteiligung ist bislang gemein, dass es einen Dialog, eine Diskussion, eine Plattform inhaltlicher Auseinandersetzung gibt. Dies ist insofern bereits ein Fortschritt, weil aus dem passiven Konsumieren von Information nun eine Sprechbeteiligung der Bürgerinnen und Bürger wird.
Wenn wir lediglich Informationen aufnehmen können, uns Positionen anderer, vermeintlicher „Experten“ hierzu anhören, um Nachrichten besser „einordnen“ zu können, dann muss dies mittel- und langfristig bei denjenigen Frust auslösen, die in ihrem sonstigen Alltag gemeinhin Informationen als Grundlage für ihre Entscheidungen benutzen. Im politischen Bereich ist dies jedoch völlig anders: Nachrichten werden vorgetragen, von anderen kommentiert. Und danach ist Schluss. Information oder Aufklärung über einen Sachverhalt ohne Handlungsoption ist sinnlos.
Es ist an der Zeit, das wir über politische Entscheidungen abstimmen, bevor dies in den Kommunen und Landtagen, im Deutschen Bundestag oder im Europaparlament geschieht.

Für diejenigen, die Angst vor den Ergebnissen solcher Abstimmungen des Volkes haben, sei zur Beruhigung angemerkt, dass diese Abstimmung nicht an die Stelle der Abstimmung des repräsentativen Parlamentes tritt, sondern sich an dessen Seite stellt. Sie nimmt den Berufspolitikern ihre Entscheidung nicht ab. Vielmehr muss der Berufspolitiker bei seiner Entscheidung über ein konkretes Gesetz nunmehr bedenken, ob das Volk dieses konkrete Gesetz in dieser konkreten Ausgestaltung mehrheitlich angenommen oder abgelehnt hat.

Sollte sich herausstellen, dass Politiker den Mehrheitsentscheidungen des volksparlament.eu nicht folgen, wäre die Gründung einer Partei zu erwägen, die diese Mehrheitsentscheidungen im Berufsparlament umsetzt und daher Volksvertreter im direktdemokratischen Sinne sind.
Vielleicht ist diese Zweistufigkeit gut, um Vertrauen in die Abstimmungsprozesse auch bei denjenigen zu schaffen, die der Direkten Demokratie bislang skeptisch gegenüberstehen.

Was also braucht es, um dass wir uns eine konkrete Sachentscheidung zutrauen? Wir brauchen Vorsicht vor der eigenen Selbstüberschätzung und Vorsicht gegenüber dem Phänomen, der Richtigkeit unserer Einschätzung zu sicher zu sein. Wir brauchen die Offenheit und das Vertrauen, dass unsere Mitmenschen ebenfalls so verantwortungsbewusst ihre Entscheidung treffen werden, wie wir selbst. Wir brauchen eine Selbsteinschätzung, die es uns erlaubt, dass wir uns diese Entscheidung selbst und anderen zutrauen. Und wir benötigen den Mut, diese Entscheidung auch konkret zu treffen.

Ich bin zuversichtlich, dass wir mit zunehmender geübter Praxis Entscheidungen werden weitaus selbstverständlicher treffen können, als zu Beginn dieser politischen Zeitenwende.